Was Infos wirklich wollen

Es gibt Texte, die sind gut leserlich und mit anschaulichem Material versehen. Trotzdem fragt man sich nach einem Dutzend Seiten, ob Autor oder Leser oder beide wirklich checken, was ausgesagt respektive verstanden werden soll. So ergeht es mir etwas mit dem Text „Information Wants to Be Shared“ von Joshua Ganz.

Dem Autor geht es um Verteilprozesse von Information, die er aus ökonomischer Perspektive analysieren möchte. Er stellt zu Recht fest, dass Information nur in dem Mass relevant und wirksam wird, wie sie verteilt wird. Der Autor nimmt die Preisbildung in den Blick. Er konstatiert im Einklang mit der allgemeinen Wahrnehmung und mit Steve Wozniak in den achtziger Jahren, dass die Verteilung von Information immer günstiger wird. Autor Ganz versucht, den daraus folgenden Wandel des Informationsmarktes und die Auswirkungen auf die Vertriebsindustrie zu skizzieren. Gelingt das?

Ein Problem: Der Informationsbegriff wird weder geklärt noch differenziert. Joshua Ganz scheint davon auszugehen, dass Informationen im Allgemeinen marktfähig seien. Das leuchtet nicht ein. Grosse Segmente von Informationen gehören persönlicher Kommunikation oder banalen betrieblichen Abläufen an. Niemand will die haben – und schon gar nicht dafür bezahlen. Die meisten Formen von Informationen flottieren einfach in der Gesellschaft herum. Potentiell marktgängig ist Information in moderner Gesellschaft allenfalls, wenn sie als Werk geformt ist. Und auch dann müssen noch verschiedene weitere Bedingungen erfüllt sein. Die Myriaden von Flickr-Fotos oder Schulband-Songs sind werkartige Bausteine der alltagskulturellen Kommunikation – von Marktgängigkeit sind die aber weit entfernt.

Dem würde der Autor wahrscheinlich nicht widersprechen. Ist es dann aber angebracht, so allgemein von Information und Markt zu reden?

Der Autor nennt es immer Information, in manchen Zusammenhängen meint er aber Werke. Im Titel spricht er aber offenbar und meint offenbar ganz allgemein Informationen. Die Lesenden haben lebhaft diskutiert, wie der Titel zu interpretieren sei. Eine Möglichkeit ist, „Information will…“ metaphorisch zu verwenden, dann aber ein ausformuliertes Konzept auszubreiten, das die Rolle sozialer Akteure erläutert oder die Forderung nach optimalem Informationsfluss untermauert. Der Autor scheint die metaphorische Formulierung jedoch ziemlich wörtlich zu nehmen. Wenn Information wirklich „will“, wird sie zum handelnden Akteur hoch stilisiert. Eine eher abenteuerliche Vorstellung. Vermutlich will Information gar nichts. Und ob sie wirklich geteilt werden kann, wäre zu diskutieren. Sicher kann sie nicht so geteilt werden, wie der heilige Martin seinen Mantel teilte, um die Hälfte einem Bettler zu geben.

Joshua Ganz vertritt die These, dass die KonsumentInnen eigentlich immer schon nur das Medium bezahlt hätten, nicht die Information. Etwas plausibler erscheint die Vermutung, dass der Käufer eines Krimis Taschenbuchform für einen Verbund von Medium und Content gezahlt hat. Wobei heute wie in den vergangenen Jahrhunderten immer die Medienhersteller den Löwenanteil der Erträge abschöpft haben – den Contentproduzenten blieben und bleiben Peanuts.

Mit seiner Behauptung, dass im Prinzip nur das Medium marktfähig ist, stützt der Autor einen Diskurs, der die wirtschaftlichen Anspruche der Inhaltsproduktion wegdefiniert und nur die technischen Infrastrukturen und Services wirklich abgelten will. Die ICT-Branche dürfte kaum widersprechen. Sie setzte 2012 rund 3‘000 Milliarden Franken um. Damit sind wir bei realer Ökonomie angelangt. Bei Geldflüssen, Branchen, Interessen und Verteilkämpfen. Diese Aspekte bleiben ausgeblendet, was dem Text eine gewisse Abgehobenheit verleiht.

Wir sind gespannt, wie es weitergeht und hoffen, dass der Text in der nächsten Folge zum Kontrast eine wohlmeinendere Besprechung erhält.

 

Joshua Ganz: Information Wants to Be Shared. Harvard Business Review Press, Boston, Masschusetts. Blog dazu.

Creative Commons und Mitgliedschaft SUISSIMAGE ist kein Problem

Verwertungsgesellschaften nehmen für ihre Mitglieder Urheberrechte und verwandte Schutzrechte war. Deshalb ist es für Nutzende von Creative Commons wichtig zu wissen, ob und wie Creative Commons Lizenzen mit der Mitgliedschaft bei einer Verwertungsgesellschaft vereinbar ist. Wir haben bei den Verwertungsgesellschaften nachgefragt und haben eine erste Antwort von SUISSIMAGE erhalten. Vielen Dank!

Kurz zusammengefasst: Die Mitgliedschaft bei SUISSIMAGE und die Nutzung von Creative Commons Lizenzen ist kein Problem. Details stehen unten in der publizierten Antwort.

Ich habe die Antworten unten unter Bezug auf die Nummer der Frage aufgeführt. Bitte beachten Sie, dass sich unsere Antworten einzig auf SUISSIMAGE und die von ihr verwalteten audiovisuellen Werke Gültigkeit haben.

Weiter gilt es vorauszuschicken, dass SUISSIMAGE – etwa im Gegensatz zur Musik – nur in Teilbereichen der Lizenzierung tätig ist, nämlich überall dort, wo das Schweizer Recht obligatorisch die Kollektivverwertung vorschreibt (Weitersenden, Sendeempfang, Privatkopie, schulisch/betriebliche Nutzung, Vermieten und Archivnutzungen). Darüber hinaus nehmen wir im Bereich der freiwilligen Kollektivverwertung für unsere Mitglieder auch noch die Senderechtsentschädigungen für das Senden in Schweizerprogrammen sowie die Entschädigungen für VoD wahr. In allen andern Bereichen, insbesondere auch im Falle der Vorführung, erfolgt die Lizenzierung durch die Berechtigten selbst aufgrund von individuellen Verträgen.

Vorauszuschicken gilt es weiter, dass man nie Werke lizenziert, sondern bestimmte Nutzungen eines Werkes.

Soviel vorab. Nun aber zu Ihren konkreten Fragen:

1. Ist es möglich, als Mitglied ihrer Verwertungsgesellschaft einzelne Werke unter einer CC Lizenz zu veröffentlichen?

1) Ja, kein Problem.

2. Falls Ja: Ist die Nutzung aller Varianten erlaubt oder nur
einzelnen? (Varianten sind CC-BY, CC-BY-NC, CC-BY-SA, CC-BY-ND, CC-BY-NC-SA, CC-BY-NC-ND)

2) Ja, alle Varianten.

3. Falls Nein: Ist es geplant, dass CC Lizenzen von Mitgliedern in
Zukunft genutzt werden können? Wann? Falls Nein: Weshalb nicht?

3) Siehe 2.

4. Kann ich als Mitglied ein Werk mehrfach lizensieren, etwa cc: non-commericial für die Öffentlichkeit und andere Lizenzen für kommerzielle Verwertungen?

4) Getrennte Lizenzierung nach kommerziell/nicht-kommerziell sind im Filmbereich bezüglich der Vorführrechte üblich. Im Bereich der obligatorischen Kollektivverwertung ist diese Unterscheidung nicht vorgesehen, doch handelt es sich hier ohnehin praktisch ausschliesslich um kommerzielle Nutzungen und für Schulen sieht das Gesetz selbst eine Vergünstigung vor (Art. 60 Abs. 3 URG).

Die Abgrenzung kommerziell/nichtkommerziell ist allerdings unscharf und heikel, denn nicht alles was nach nicht-kommerziell aussieht ist es auch. So gelten etwa Gratisangebote wie Zattoo und Wilma für uns als kommerziell, denn sie finanzieren sich durch Werbung statt durch Abonnementsgebühren. (Im übrigen sind auch Ihre Begriffe verwirklich, denn auch kommerzielle Angebote richten sich an die Öffentlichkeit.

5. Ich habe bereits Werke unter CC lizensiert, kann ich noch der Verwertungsgesellschaft beitreten?

5) Ja, kein Problem.

6. Ich möchte ein bestehendes Werk neu unter CC Lizenz veröffentlichen. Kann ich das? Was muss ich berücksichtigen?

6) Ja, kein Problem, denn die CC-Lizenzen sehen ja vor, dass die Rechte, für welche das Gesetz die obligatorische Kollektivverwertung vorschreibt, davon unberührt bleiben, so dass sich im Bereich der obligatorischen Kollektivverwertung nichts ändert. Im Bereich der freiwilligen Kollektivverwertung würde das Mitglied, für ein Werk das es nicht anmeldet, im Falle der Sendung seines Werkes durch uns nicht mehr entschädigt.

7. Ich möchte Ausschnitte meines Werkes (bspw. Samples, Absätze,Filmszenen) anderen Kunstschaffenden unter einer CC-Lizenz zur
Verfügung stellen. Kann ich das?

7) Ja, kein Problem, denn das ist im audiovisuellen Bereich ohnehin Individualverwertung und SUISSIMAGE lizenziert keine derartigen Nutzungen.

8. Verwertet Ihre VWG nur nicht-digitale Publikationsrechte kollektiv oder auch Online-Rechte?

8 ) Im audiovisuellen Bereich ist heute alles digital und die meisten Nutzungen sind – zumindest teilweise – auch internetbasiert.

9. Können die Online- und Offline-Rechte Ihrer Mitglieder von verschiedenen Institutionen verwertet werden?

9) Unklare Frage: was sind Online-/Offlinerechte? Das sind keine rechtliche Begriffe und eine solche Abgrenzung ist weder praktikabel noch macht sie Sinn. Wir unterscheiden nach Nutzungen und nicht Transportwegen. Meist ist beim Transport ohnehin auch irgendwo das Internet zwischengeschaltet (vgl. Frage 8).

10. Wie stellen Sie sicher, dass die Einnahmen aus flächendeckende Pauschalabgaben auch Nichtmitgliedern (etwa den Urhebern der
Wikipedia) zugute kommen, wie dies vom Gesetz vorgesehen ist?

10) Wir kennen praktisch keine flächendeckenden Pauschalvergütungen. Die allermeisten unserer Tarife sind nutzungsbezogen, so dass eindeutig feststeht, was genutzt wird. In der Regel sind es in unserem Falle Fernsehsendungen. Nur im Falle der gesetzlich erlaubten, aber vergütungspflichtigen Privatkopie kann es bei gewissen Speichermedien (z.B. Musikhandys, doch ist dieser Tarif ohnehin noch angefochten) ausser dem Fernsehen noch weitere Quellen wie bespielte DVD oder das Internet geben. Diese werden bei der Verteilung berücksichtigt, wenn sie mindestens 10% ausmachen. Dies wird regelmässig durch Studien des GfS-Forschungsinstitut erhoben, da wir diese Informationen auch für die Tarifverhandlungen benötigen. Bisher hat bei audiovisuellen Werken noch keine andere Quelle als das Fernsehen diese 10% erreicht.

Nun hoffe ich, Ihnen mit diesen Antworten gedient zu haben. Ich hoffe auch, meine Antworten sind verständlich und klar und bitte Sie, sich im Falle von Unklarheiten oder Anschlussfragen nochmals zu melden.

Auch wir möchten uns herzlich bei SUISSIMAGE für die Antworten bedanken.

 

Fabrikzeitung zum Thema Public Domain

Die Public Domain Ausgabe der Fabrikzeitung ist da:

Die vorliegende Ausgabe dreht sich bewusst nicht zentral um das Urheberrecht; sie versucht sich dem zu nähern, worum es wirklich geht: Ein Bewusstsein zu fördern, dass Gemeinfreiheit für uns alle gedacht ist, dass wir alle eine Verantwortung dafür haben, und dass diese auch von öffentlicher und zivilgesellschaftlicher Seite aktiv gefördert werden soll. In Zusammenarbeit mit dem Dock 18 wurden acht Autoren angefragt, einen Überblick über die wichtigsten Fragen zur Gemeinfreiheit zu bieten und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie damit umgegangen werden kann.

Beiträge sind:

  • Public Domain & Commons als Service Public (von Felix Stalder) CC-BY
  • Gemeinfreiheit: Enteignung oder Gewinn? (von Daniel Boos) CC-BY
  • The Joyce is yours (Interview mit Fritz Senn, Zurich James Joyce Foundation)
  • ASCII für alle – Von Projekt Gutenberg bis Heute (von David Pachali) CC-BY-SA
  • Right might still be wrong (von Paul Keller) CC-BY
  • Public Domain als Kampfarena (von Daniel Boos und Wolf Ludwig) CC-BY
  • Die Welt vor 70 Jahren gehört dir! (von Mario Purkathofer) CC-BY
  • Guerilla Open Access Manifesto (von Aaron Swartz) PD

Mit einer Doppelseite mit 1942 verstorbenen Urhebern deren Werke nun gemeinfrei sind.

Die Ausgabe (PDF) Nr. 288 liegt an verschiedenen Orten in Zürich auf. Auf Anfrage kann auch ein Papierexemplar zugesendet werden (boos(at)allmend.ch)

Nachruf aufs Öffentliche

Die Strafverfolger seines Landes verfolgten ihn gnaden- wie bedingungslos. Nicht weil er – im höheren Regierungsauftrag – ganze Stadtviertel im Irak oder Dörfer in Afghanistan wegen vorgeblich verdächtiger Zivilisten eliminierte. Er kämpfte lediglich für Informations- und Gemeinfreiheit oder die Interessen der zahlenden Allgemeinheit – ohne sich in seinen jungen Jahren jemals persönlich oder unverdient zu bereichern.

Aaron Swartz war ein hochbegabter Bewegter, Getriebener wie Streitender fürs Öffentliche – ob Zugang (Access) oder Teilhabe (CC) und Gemeinfreiheit (Public Domain). Er kämpfte unermüdlich, bisweilen auch mit umstrittenen Mitteln für gemeine Werte, wo andere sich einzig um private Vorteile und Vereinnahmungen kümmern oder sich auf Kosten anderer schamlos bereichern.

Die Strafverfolger seines Landes jagen nicht mächtige Bankiers und Finanzspekulanten, die das Land und die Weltwirtschaft bisweilen an den Abgrund trieben, Volksvermögen ruinierten, um eigenes zu mehren. Solch schwere Verbrechen bleiben weiterhin folgenlos, ungestraft und ungesühnt. Strafverfolger machen ja auch nur ihren Job im Sinne der Mächtigen oder nach stupider Auslegung irgendwelcher Gesetze.

Aaron hingegen hat seinen bisher öffentlichen Kampf zuletzt tragisch privatisiert. In seiner Verzweiflung über den lamentablen Zustand des Öffentlichen wie die korrumpierten, doch im öffentlichen Auftrag handelnden Strafverfolger hat er seinem jungen Leben ein jähes Ende gesetzt. Wir trauern um Aaron, der in seinen viel zu wenigen Jahren alles Öffentliche so ungemein bereicherte.

Wolf Ludwig

Projekt zur Messung Digitaler Offenheit gestartet

Um den Beitrag öffentlicher Körperschaften zu digitalen Gemeingütern (wie Daten, Informationen, Wissen, Infrastruktur) sicht- und vergleichbar zu machen, haben der deutsche Verein Digitale Gesellschaft e. V., der österreichische Verein Freie Netze. Freies Wissen. und der Schweizer Verein Digitale Allmend das Projekt eines Digitalen Offenheitsindex (Digital Openness Index, do:index) initiiert.

Das Forschungsprojekt hat zum Ziel eine Indikatorenmatrix zur Bewertung der Digitalen Offenheit zu erstellen. Mit der Indikatorenmatrix kann dann ein Ranking der digitalen Offenheit von ausgewählten Gebietskörperschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erstellt werden. Ein Softwaretool wird eine Selbsteinstufung ermöglichen. Mittels Ranking und Indikatorenmatrix soll eine offene Diskussion über Handlungsmöglichkeiten für mehr digitale Offenheit gefördert werden.

Wissenschaflicher Partner ist die FU Berlin (Juniorprofessur für Organisationstheorie (Leonhard Dobusch). Die Projekkoordination wird von Leonhard Dobusch gemacht. Das Projekt wird gefördert von der Internetfoundation Austria. Die Digitale Allmend ist als Partner aus der Schweiz dabei (Koordination Daniel Boos (boos-at-allmend.ch).

Weitere Infos finden sich auf der Projektseite.

 

Musik-Flatrate nach Gerd Leonhard – Video des Medienkulturgesprächs und Berichte

Die These: Musik fliesst heute überall, jederzeit und auf allen Geräten, egal ob wir einen Download oder einen sog. Stream wollen. Der Unterschied zwischen Anhören und Besitzen ist bereits fast vollkommen verschwunden – und genau das ist die Herausforderung für die gesamte Musikwirtschaft. Wir brauchen dringend neue Geschäfts- und Kulturmodelle die diesem unwiderlegbaren Trend Rechnung tragen.

Rund um obengenante These fand am 28 November 2012 in der Roten Fabrik ein Medienkulturgespräch satt. Gerd Leonhard (Autor, Musiker, Futurist und CEO TheFuturesAgency (Basel)) stellte seine Idee einer Internet Musiklizenz und Musik-Flatrate vor. Folgende Experten und Interessenvertreter gaben Stellungsnahmen ab: Tim Renner / MotorMusic Berlin, Poto Wegener / Swissperform. Hartwig Thomas – Digitale Allmend, Reto Burrell – Musikschaffender, Wolfgang Schögl – SofaSurfer, Fabian Niggemeier – SUISA, Michael Gregr – Piratenpartei, Michel Rudin -Konsumentenforum. Moderiert von Philipp Schnyder von Wartensee – Festivalleiter m4music beim Migros-Kulturprozent.

kultur.tv hat die Aufnahmen der Veranstaltung um das Musik-Flatrate veröffentlicht. Man kann sich dort die Präsentation, Stellungsnahmen und Diskussion ansehen.

Gerd Leonhard – Die Flatrate hier
Alle Beiträge hier
Alle Beiträge auf YouTube als Playlist hier

Musikmarkt hat auch über die Veranstaltung berichtet: “Musik-Flatrate: Gerd Leonhard polarisiert die Schweizer Branche”

Vorgängig hat es auch einige Beiträge in Zeitungen gegeben:

Gerd Leonhard hat auf seiner Webseite noch mehr Ressourcen zum Thema zusammengestellt.

Wir sind erst am Anfang

Sherry Turkle schliesst ihr Buch “Verloren unter 100 Freunden” mit einem pessimistischen Ausblick auf die Auswirkung der Netzwerkkultur ab. Wenn man der Autorin glaubt besteht aber noch Hoffnung, denn das Internet ist erst am Anfang.

Das zweite Kapitel schliesst ab wie es begonnen hat: In narrativer Form werden individuelle Erlebnisse geschildert, ohne dass die Autorin deutlich Stellung bezieht. So erfahren wir, was einzelne Menschen dazu bewegt intimste Geheimnisse auf PostSecret zu veröffentlichen oder ein zweites Leben auf Second Life zu führen.

Die von uns vermisste Reflexion finden wir aber schliesslich doch noch in der Zusammenfassung.
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28. November – Medienkulturgespräch – Die Musikflatrate

Gerne machen wir Sie auf die von der Digitalen Allmend unterstützte Veranstaltung aufmerksam:

Medienkulturgespräch – Die Musikflatrate

Die These: Musik fliesst heute überall, jederzeit und auf allen Geräten, egal ob wir einen Download oder einen sog. Stream wollen. Der Unterschied zwischen Anhören und Besitzen ist bereits fast vollkommen verschwunden – und genau das ist die Herausforderung für die gesamte Musikwirtschaft. Wir brauchen dringend neue Geschäfts- und Kulturmodelle die diesem unwiderlegbaren Trend Rechnung tragen.

Präsentation: Eine neue Internet Musiklizenz und die Musik-Flatrate: was, wie, wer und warum? Gerd Leonhard, Autor, Musiker, Futurist und CEO TheFuturesAgency (Basel)

Stellungsnahmen zum Thema: Tim Renner / MotorMusic Berlin, Poto Wegener / Swissperform. Hartwig Thomas – Digitale Allmend, Christoph Trummer – Musikschaffender, Wolfgang Schögl – SofaSurfer, Fabian Niggemeier – SUISA, Michael Gregr – Piratenpartei, Michel Rudin – Konsumentenforum

Moderation: Philipp Schnyder von Wartensee, Festivalleiter m4music beim Migros-Kulturprozent

Präsentiert vom Konzeptbüro Rote Fabrik + Dock18 Institut für Medienkulturen der Welt. Unterstützt von Digitale Allmend

Mittwoch 28.11.2012 – 18:00
Rote Fabrik, Seestrasse 395, Zürich
Eintritt frei

Link zur Anmeldung.
Details Veranstaltung und Ort Rote Fabrik.

Resourcen zum Thema:

Neue Einsamkeit

Nicht einfach Begeisterung hat der erste Teil von Sherry Turkles Buch „Verloren unter 100 Freunden“ ausgelöst. Wie sieht es mit dem zweiten Teil aus, der sich mit sozialen Netzwerken beschäftigt?

Die Lesgegruppe hat die Anregung aus dem Kommentar zu letzten Blogbeitrag aufgenommen und sich mehr en Detail mit dem Text auseinandergesetzt. Wir haben uns bemüht anhand einiger konkreten Textstellen die letztes Mal geäussert Hauptkritik zu verifizieren: Turkle äussere nur summarische Hypothesen, verstreut in einer Masse von anekdotischen Schilderungen.

Sehen wir uns das Konzept es „Lebensmix“ an. Dass die Wissenschaftlerin das nicht selber erfindet, sondern aus der Schilderung des Probanden Pete aufgreift, ist durchaus produktiv. Allerdings bleibt eine Reflexion aus, der Begriff wird beschreibend angereichert.

Mobile Kommunikation ist konstitutiv für die Idee des Lebensmix. Sie ermöglicht das Annehmen einer virtuellen Identität „im Vorübergehen“. Etwa auf dem Spielplatz. „Viele Erwachsene teilen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kindern und mobilen Geräten auf.“ Das hilft „mit der Anspannung des täglichen Lebens fertig zu werden. Heute fragen wir „nicht mehr nach der Befriedigung im Leben, sondern nach der Befriedigung im Lebensmix. Wir sind vom Multitasking zum Multileben übergegangen.“ (Seiten 275, 276).

Turkle zielt auf die offensichtliche Möglichkeit, dank Medien aus dem physisch unmittelbaren Kontext von Kommunikation herauszutreten. Neu ist sicher die Mobilisierung dieser Möglichkeit. Der Grundvorgang ist aber alles andere als neu. Es ist ja gerade ein zentrales Charakteristikum von Medien, die Unmittelbarkeit von Kommunikation zu überschreiten. Waren Rollenwechsel wirklich immer „von einer Veränderung der Umgebung abhängig“? Auch Bibelstudenten des Mittelalters, die Briefeschreibenden der Romantik oder die im letzten Jahrhundert notorischen Teenie-Telefonate auf dem Familienanschluss nahmen Rollenwechsel vor.

Der medientechnische Drall der „Lebensmix“ Vorstellung erscheint problematisch. Turkle impliziert, dass der Mediengebrauch die Komponenten des Mixes erzeugt. Das wirkt wenig plausibel. Identitäten sind und waren heterogen, das wird ja in der Postmoderne auch hinreichend reflektiert. Die Heterogenität bezieht sich aber auf die verschiedenen Rollen und Vorstellungen, welche eine konkrete Person integriert. Das auf die Modi Handy-On und Handy-Off zu reduzieren, erscheint etwas schlicht.

Schliesslich kommt Turkle mit der Abrenzung von virtueller und realer Welt nicht wirklich klar. Ein grosser Teil der über neueste Technologie abgewickelten Kommunikation dient einfach der Pflege lebensweltlicher Beziehungen. Das ist kein bischen virtueller als ein Telefonat mit einer Tante in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch wenn ein Smartphone im Spiel ist: Der Virtualitätsgrad von Telefonieren, Chatten, Profilpflege oder Avatarinteraktion ist doch sehr verschieden und lässt sich überhaupt nicht über einen Kamm scheren.

Kurz: Die Hypothese eines mangelnden Tiefgangs verflüchtigt sich im zweiten Teil des Buches nicht. Dass Turkle durchaus eine ganze Menge von interessanten Hypothesen einstreut, dokumentieren wir im Anhang mit einer Sammlung aus dem Kapitel „Immer online“.

Generell wurden die diskutierten Kapitel des Buches als deutlich interessanter und relevanter bewertet, als der Teil über die Roboter. Es lohnt sich durchaus, einige Kapitel zu lesen. Die anekdotischen Schilderungen sind hier noch plastischer als bei den Roboterversuche, weil einzelne Figuren ausführlich geschildert werden.

Ziemlich viel Verwunderung löst die ununterbrochene Verwendung von „we“ durch die Autorin aus. Die Nutzer einer bestimmten Handymarke? Oder der gebildete Mittelstand der USA? Ganz bestimmt nicht mit gemeint sein können Obdachlose, Feldarbeiter, Schwerkranke und ein paar Milliarden weitere Erdenbewohner. Abgesehen von Ausgrenzung und mangelnder Genaueigkeit: Wenn „wir“ doch so sind, warum braucht es dann hunderte von Seiten Schilderungen „unseres“ Umgangs mit Elektrorobben und Telefonini?

Das führt zur Frage, was das für ein Text ist. Ratgeberliteratur für gehobene Mittelständler, die selber ganz instrumentell neue Medien nutzen, bei ihren Teenies aber Suchttendenzen fürchten? Trostliteratur für die gleiche Klientel? Verfolgt Turkle literarische Ziele mit ihren durchaus packenden Figurenschilderungen? Ein überlang geratener Magazin-Essay?

*  *  *  *  *

ANHANG: Hypothesensammlung aus dem Kapitel 8. “Immer online”

  •  Neue Technologien des Informationsaustauschs werden „auch für zwischenmenschliche Beziehungen genutzt“ /271/
  •  Menschen arbeiten lebenslänglich an ihrer Identität – „mit den Materialien, die wir gerade zur Hand haben“ … „Die sozialen Welten im Internet haben uns von Anfang an neues Material verschafft.“ /272/
  • Früher waren Rollenwechsel „von einer Veränderung der Umgebung abhängig“ – heute können sie in beliebiger Umgebung stattfinden /273/.
  • Es gibt Menschen, die sich „in ihren online-Identitäten eher wie sich selbst fühlen als in der physischen Realität“ /273/.
  • In Aufsichtssituationen: „Viele Erwachsene teilen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kindern und mobilen Geräten auf.“ /275/.
  • Heute fragen wir „nicht mehr nach der Befriedigung im Leben, sondern nach der Befriedigung im Lebensmix. Wir sind vom Multitasking zum Multileben übergegangen.“ Das Konzept des Lebensmix übernimmt sie direkt vom Probanden Pete /275/.
  • Mobile Kommunikation ist konstitutiv für die Idee des Lebensmix. Sie ermöglicht das Annehmen einer virtuellen Identität „im Vorübergehen“. Das hilft „mit der Anspannung des täglichen Lebens fertig zu werden /276/.
  • Stufenweise Aufwertung, basierend auf emotionalen Bedürfnissen der Benutzer: Nützlicher Ersatz zu spärlicher Kommunikation > Vorzüge ständiger Verbindungsaufnahme > „Leben auf Facebook sei besser als alles andere“ /276/.
  • Das schnelle Pendeln im Lebensmix „verfestigt sich zu einem Gefühl ständiger Teilnahme“ /277/.
  • Neue Medien untergraben die Strukturierung des Lebens durch Rituale (wobei Menschen „geschickt“ beim Einrichten von Ritualen sind) /278/.
  • Multitasking wurde von einem Fluch zu einer Tugend umgewertet. Untersuchungen zeigen, dass Leistungen limitiert sind, der Körper aber ein Hoch erlebt. „Wir haben uns in das verliebt, was die Technologie uns leicht gemacht hat, unser Körper spielte mit.“ /280/.

Muzak Flatrate

Die Musik Flatrate – das Schweizer Modell überschrieb Gerd Leonhard seinen offenen Brief vom 1. Juni 2012 an die Rechteinhaber, Verwertungsgesellschaften, Verbände von Musikschaffenden und Musikproduzenten und an den Bundesrat, in welchem er eine neue Lizenz für online verbreitete Musik vorschlägt. Postwendend erhielt der Futurist und Musiker von den Verwertungs­gesellschaf­ten, den Verbänden der Musikindustrie und dem Verein Musikschaffende Schweiz, die vorgeben, für die Direktbetroffenen zu sprechen, die Antwort, dieses neue Konzept sei eher eine Schnappsidee als ein Segen. Dabei würde Leonhards Vorschlag gerade den grossen Labels, den vermeintlichen Profiteuren einer Verschärfung des Urheberrechts, nützen, welche die seichteste Hintergrundmusik, auch Muzak genannt, auf Kosten echter Musik fördern wollen.

Hier soll es für einmal nicht um die ewig-gestrigen Argumente der „Enteignung“ gehen, wie sie von den Gegnern Leonhards wieder mal angeführt werden. Dieselbe Regelung für das Radio wird von denselben Organisationen kräftig ausgebeutet, ohne dass jemals von Enteignung die Rede ist. Das „Eigentum“ an veröffentlichter Musik kann nur beanspruchen, wer auch die Verantwortung dafür übernimmt, dass die Menschen von ihnen unerwünscht aufgedrängter Beschallung mit seiner Musik verschont bleiben. Stattdessen möchte ich Leonhards Vorschlag etwas ergänzen.

Leonhard schwebt eine Zukunft vor, wo Musik flüssig und allgegenwärtig verfügbar ist, wie das Wasser, das aus dem Wasserhahn strömt. Natürlich bezahlen Hausbesitzer, Mieter etc. für die Infrastruktur des Wassers pauschale Preise, aber der einzelne Bezug von Wasser erscheint dem Konsumenten gratis. Dafür schlägt er eine obligatorische Pauschallizenz vor, welche den Nutzern eingeräumt wird, damit sie musikalische Inhalte online anbieten dürfen. Die Musiker und die Musikindustrie räumten in den dreissiger Jahren dem Radio eine Pauschallizenz für das Abspielen beliebiger Schallplatten ein. Gemäss Leonhard sollen die Uploader im Internet gleich behandelt werden, wie das Radio schon seit fünfzig Jahren. Die Symbiose mit dem Radio hatte sich für die Musikindustrie ja durchaus gelohnt.

Die Schweiz ist weitherum das einzige Land, wo der Download von Musik – wie übrigens auch das Radiohören – nicht strafbar ist. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass die Plattenindustrie hierzulande die alleinerziehenden Mütter von 14-jährigen Töchtern nicht mit Abmahnungen und Gerichtsverfahren terrorisieren kann, dass unsere Pausenplätze nicht kriminalisiert werden, und dass den Labels und Musikern nicht das Recht eingeräumt wird, alle privaten Providerdaten und jeden PC, jedes Notebook und jedes Smartphone zu durchschnüffeln. Dafür bezahlen die Schweizer schon heute eine Art Musik Flatrate von 150’000’000 Franken pro Jahr, die von den Verwertungsgesell­schaf­ten in Form von Pauschalabgaben auf Leerdatenträgern, Geräten, Netzwerkgebühren für Firmen und Spezialgebühren für Blindenbibliotheken abverlangt werden. Die Musikindustrie, der Verein Musikschaffende Schweiz und eine Reihe von Parlamentariern möchte diesen Zustand gerne ändern, die fortschrittliche Schweizer Version abschaffen, wie im Rest der EU die flächendeckende strafrechtliche Bedrohung aller Bürger durch die Rechteinhaber einführen und damit die freie Meinungsäusserung abschaffen.

Leonhards Vorschlag will dagegen über die Straffreiheit des Downloads hinaus sogar eine potenzielle Straffreiheit des Uploads einführen. Wer Musik ins Internet lädt, soll in Zukunft die Erlaubnis dazu mit einer einfachen, pauschalen Abgabe bezahlen können. Wie iTunes es den Konsumenten (Downloadern) einfach machte, für Musik zu bezahlen, soll diese neue Flatrate es den Nutzern (Uploadern) einfach machen. Die Höhe der Flatrate wäre so anzusetzen, dass sie die Ausfälle der Musikindustrie deckt. Überraschenderweise kommt er auf rund 150’000’000 Franken pro Jahr, wie sie schon heute an die Verwertungsgesellschaften bezahlt werden und in deren exorbitanten Löhnen und den Taschen der wenigen ganz grossen Labels verschwinden, ohne dass die Musikschaffenden sich fair entschädigt vorkommen. Die Einführung einer solchen neuen Lizenz würde der Politik die Möglichkeit einräumen, mit dem Missständen bei den Verwertungsgesell­schaf­ten Schluss zu machen und sie von ihren öffentlich-rechtlichen Aufgaben zu befreien, damit sie sich ganz ihrer Hauptaufgabe, der kollektiven Verwertung der Werke ihrer Genossenschafter, widmen können.

Die alles entscheidende Frage ist aber, ob dieser Vorschlag zu einer fairen Entschädigung der Musikschaffenden führt. Das ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit einer fairen Entschädigung für die Rechteinhaber, da die meisten Musikschaffenden zu eher unfairen Vereinbarungen mit den übermächtigen Labels gezwungen wurden. Und hier entpuppt sich die vorgeschlagene Musik Flatrate als unzulänglich. Die Verteilung der Einnahmen soll nämlich proportional zu den Downloads (Streaming etc.) erfolgen. Damit wird die der grössten Menge mit der grössten Anzahl Wiederholungen vorgedudelte Hintergrundmusik auf Werbebannern und an öffentlichen Plätzen, die unfreiwillig konsumiert wird, am meisten belohnt. Die visionäre Musik Flatrate degeneriert so zur Muzak Flatrate.

Das Bild „Musik flüssig und allgegenwärtig wie Wasser“ beschreibt nämlich Muzak, die repetierbare Konservenform der Musik, wie wir sie aus Warenhäusern, Aufzügen, Bahnhöfen, Werbebannern etc. kennen. Eigentliche Musik ist hingegen ein in der Zeit einmaliges und unrepetierbares temporales Ereignis. Sie schafft und verstärkt Identität in der Disco, in der Oper, beim Volkstanz, im Sport, im Konzert, in der Kirche, in der Werbung, in der Politik. Wir kaufen uns Konserven, um an das identitätsstiftende Erlebnis erinnert zu werden. Ohne dieses Erlebnis oder als reines Hintergrundgedudel sinkt sie aber schnell auf das Niveau von Muzak ab.

Die digitale Revolution hat der Musik ungeahnte neue Freiräume eröffnet. Waren die Vierteltontrompeten und der 31/32-Takt der New Don Ellis Band in den Siebziger Jahren noch revolutionär, so können wir heute bisher unbekannte Welten von Geräuschen, Harmonien und Rhythmen betreten, die man sich vor dem Siegeszug der digitalen Musik nicht einmal vorstellen konnte. Wir können eine Symphonie mit singenden Walfischen oder einen Online-Chor mit Millionen von Sängern aufführen. Statt der lächerlichen zwölf radiogerechten Dreiminutentracks pro CD gibt es heute auch 3-Sekunden- oder 24-Stundenevents. Und all diese echte, einmalige Musik – ob Live oder online – findet heute mehr Beachtung denn je. Die Einnahmen aus Konzerten sind in den letzten Jahren mit Wachstumsraten über 10% förmlich explodiert. Man kann sich nur wundern, warum denn die Musiker ein Problem mit ihrer fairen Entschädigung haben sollen. Betrifft das möglicherweise nur diejenigen Musiker, die mediokre Musik anbieten, die keine Identität stiftet? Warum sollten wir diese mit staatlicher Hilfe entschädigen und dafür die Schweizer Bevölkerung dem deutschen Abmahnwahnsinn aussetzen?

Um die Muzak Flatrate in eine richtige Musik Flatrate zu verwandeln, sollten wir also den Verteilungsmechanismus im Vorschlag von Gerd Leonhard ändern. Die Konsumenten sollen frei wählen können, welcher Musik die Einnahmen aus der Flatrate zukommen soll. Nur so kann man die heute schon bestehende übermässige Bevorzugung der unerwünscht aufgedrängte Muzak zugunsten einer fairen Entschädigung der Urheber wirklicher Musik ausgleichen.