Prognosen zu Klima und Terror

Eine letzte Runde hat die Lesegruppe Nate Silver und seiner „Berechnung der Zukunft“ gewidmet. Silver erfindet sich gegen Ende des Buches nicht neu, sondern bleibt auf seinem pragmatischen journalistischen Pfad.

In Kapitel 12 geht er auf die Prognosen zur Klimaveränderung ein. Er ruft in Erinnerung, dass erste Hypothesen schon Ende 19. Jahrhunderts auftauchten. Erst in den 1980er Jahren wurden aber die Temperatursignale vom natürlichen Trend unterscheidbar. Der Autor ist sichtlich bemüht, in der aufgeheizten Diskussion der USA eine abwägende Tonart anzuschlagen.

Er plädiert dafür, Theorien anhand von Prognosen zu überprüfen. „Die Prognosen der Klimatologen trafen gelegentlich ein, gelegentlich aber auch nicht.“ Dann breitet er die Kontroverse zwischen Scott Armstrong und Al Gore aus, die sich über kurzfristige Trends gebalgt haben. Silver ist zu sehr Bestseller Autor, um sich das Showdown Moment dieses Pseudodramas entgehen lassen. Er treibt damit aber die Lesenden auf ein Terrain, das er anderswo als irrelevant taxiert. Einzelne Jahre und kurzfristige Trends haben absolut nichts mit Klimatrends zu tun, die sich auf Jahrhunderte bis Jahrtausende beziehen.

Zurecht weist Silver in Bezug auf den Prognosehorizont darauf hin, dass Klimatologen kurzfristig keinen Feedback zu ihren Modellen bekommen können, während Meteorologen permanent ihre Modelle justieren können. Ausnahmsweise bringt er in Bezug auf die Prognoseunsicherheit auch endlich einmal einige konzeptuelle Begriffe ins Spiel. Er unterscheidet Unsicherheiten von Anfangsbedingungen, von Szenarien und strukturelle Unsicherheiten. Letztere beruhen auf einem mangelhaft tiefen Verständnis des Klimasystems und seiner mathematischen Modellierung.

Er weist auf das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik hin. Auf dem einen Feld sind Relativierungen und Unsicherheitsangaben erwünscht – im politischen Kampf zählen Einfachheit und eingängige Parolen.

Ein weiteres Kapitel widmet Silver dem Thema Voraussagbarkeit von Terror. Er geht von der Diskussion zum Überfall auf Pearl Harbor aus, wo es durchaus Indizien für den japanischen Überfall von 1941 gab. Hier verlässt er das Gebiet der eigentlichen Prognostik und müsste eigentlich ausführlich auf die Problematik und Methoden einer Lageanalyse eingehen. Auch die Auseinandersetzung mit 9-11 bleibt unbefriedigend. Auch wenn Silver zurückhaltend bleibt, erweckt er den Eindruck, Indizien hätten mit etwas mehr Professionalität sicher eingeordnet werden können.

So sympathisch Silvers Pragmatismus, so interessant manches Beispiel sein mag: Dem Text fehlt es etwas an Tiefgang.

Tagungsbericht

Kurzbericht von der 13. Urheberrechtstagung des Schweizer Forums für Kommunikationsrecht vom 28. Mai 2014 in Bern

Am Mittwoch, 28. Mai 2014 hat das Schweizer Forum für Kommunikationsrecht (SF-FS) nach Bern ins Hotel Kreuz zur 13. Urheberrechtstagung mit dem Titel «AGUR12 – und jetzt?» eingeladen.

Martin Steiger und ich haben als Vertreter der Digitalen Gesellschaft bzw. der Digitalen Allmend die Tagung besucht. Martin hat die Tagungsunterlagen als PDF zur Verfügung gestellt. Die Links dazu findet Ihr jeweils passend im Beitrag.

Programm: http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_01_programm.pdf

Teilnehmerliste: http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_02_teilnehmerliste.pdf

Dieser Kurzbericht ergänzt die Tagungsunterlagen und fasst die – aus Sicht des Autors – erwähnenswerten Bemerkungen und Äusserungen der Tagungsreferenten und Podiumsteilnehmer zusammen. Es handelt sich dabei nicht um ein komplettes Bild der Tagung.

Einführung

Prof. Dr. Reto M. Hilty eröffnet die Tagung und stellt im Rahmen seiner Kurzeinführung fest, dass die AGUR12 an der Legalität des Downloads von urheberrechtlich geschütztem Material festhalten will, obwohl der EuGH – allerdings nachdem der AGUR12 Bericht abgegeben wurde – entschieden hat, dass eine solche Rechtssetzung nach EU-Recht nicht zulässig sei. Er ergänzte dazu interessanterweise, dass die Schweiz ja frei sei, im Bezug auf die EU, aber nicht ganz frei sei, im Bezug auf die USA und verweist dabei auf den Runden Tisch mit dem SECO und auf den Umstand, dass die US-Unterhaltungsindustrie immer mal wieder fordert, uns auf die Watchlist der USA zu setzen (siehe z.B. http://www.steigerlegal.ch/2014/05/05/urheberrecht-amerikanisches-lob-fuer-die-schweiz/)

Überblick

Dr. Roland Grossenbacher, Direktor des Instituts für Geistiges Eigentum (IGE), gibt einen Überblick über die Geschichte und den Zweck der AGUR12. Er weist darauf hin, dass die üblichen naturrechtlichen Begründungen für das Urheberrecht zwar als Grundlage für die Autorenrechte, also die Urheberpersönlichkeitsrechte dienen können, darüber hinaus aber wenig geeignet sind, die immer weitergehenden wirschaftlichen Monopolrechte sowie verwandte Schutzrechte und Leistungsschutzrechte zu begründen. Es sollte vielmehr eine stärkere Trennung von Autorenrechten und wettbewerbsrechtlichen Überlegungen stattfinden.

im Zusammenhang mit der AGUR12 Arbeitsgruppe weist er darauf hin, dass dort darüber Einigkeit bestanden hätte, dass illegale Angebote im Internet die Entstehung von legalen Angeboten behinderten. Eine – aus meiner Sicht – wenig belegte Behauptung der Unterhaltungs-Industrie. Im Weiteren betont er, dass die ISPs zwar nicht Teilnehmer der Arbeitsgruppe waren, aber intensiv in die Diskussionen miteinbezogen worden seien. Nicht zuletzt darum sei letztendlich ein Konsens, wenn auch ein äusserst fragiler, über die ausgewählten Vorschläge erreicht worden. Diese Vorschläge seien verhältnismässig und stünden im Einklang mit dem Schutz der Bürgerrechte. Von Schnüffeleien und «Internetpolizei» könne keine Rede sein.

Der Einführungsvortrag von Herrn Dr. Grossenbacher zeigt, dass das IGE zwar ein gewisses Verständnis für die zunehmende Kritik, die den Unterhaltungskonzernen und Rechteverwertern entgegen weht, aufbringen kann – interessanterweise spricht auch er meistens von der US-Filmindustrie und nicht von den USA, wenn es um den Druck auf die Schweiz geht. Gleichzeitig findet aber auch das IGE die Idee eines «sauberen Internets» (sic!)  als erstrebenswert und geht bei den eigenen Überlegungen von der unbelegten Prämisse aus, dass illegale Angebote im Netz die legalen Anbieter derart behindern, dass die von der AGUR12 geforderten Eingriffe gerechtfertigt sind.

Ergänzendes Material zu den beiden Einführungsreden aus den Tagungsunterlagen:

http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_03_einfuehrung_und_ueberblick.pdf

Providerhaftung und Rechtsdurchsetzung

Tagungsunterlagen zu den beiden Vorträgen:

http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_04_providerhaftung_und_rechtsdurchsetzung.pdf

Dr. Emmanuel Meyer (IGE) hat anhand einer Grafik die verschiedenen repressiven Massnahmen, die die AGUR12 fordert, vorgestellt (siehe Tagungsunterlagen). Diese Grafik werden wir in einem separaten Post noch genauer erläutern. Im Wesentlichen wurden die bekannten Standpunkte der AGUR12 wiederholt. Interessant war allerdings die, auch im späteren Verlauf der Tagung, mehrfach wiederholte Aussage, dass es sich bei vorgeschlagenen Massnahmen vor allem um Massnahmen gegen schwerwiegende Fälle handelt, und diese nicht mehr als eine Handvoll Einzelfälle betreffen soll. Nun, wenn es wirklich nur diese 5 Einzelfälle sind, die den AGUR12-Mitgliedern Probleme bereiten, ist dann wirklich noch die Verhältnismässigkeitt bewahrt, oder wird da nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen?

Bei der anschliessenden Panel-Diskussion betont Lorenz Haas (IFPI), dass er zufrieden sei mit der Einführung und dem Schlussbericht, was natürlich Bände spricht. Weiterhin erklärt er einmal mehr, dass es nicht um die US-Unterhaltungsindustrie, sondern um die Schweizer Kulturschaffenden ginge, darum habe sich auch der Verein Musikschaffende formiert. Auch diese Aussage ist zu relativieren, da die Schweizer Kulturschaffenden bis heute keine Zahlen vorlegen, die zeigen, wieviel Geld ihnen durch sogenannten illegale Quellen verloren geht. Diese Zahl wäre wichtig um die Verhältnismässigkeit der geforderten Massnahmen besser beurteilen und ggf. alternative Vorschläge entwickeln zu können.

Dr. Dominik Rubli (Sunrise) erklärt, dass durch die AGUR12-Vorschläge die Provider die Rolle der Privatpolizei der Rechteinhaber übernehmen sollen und dass aus seiner Sicht, die Diskussion im Bezug auf die Verhältnismässigkeit in der AGUR12 zu wenig geführt wurde. Der Fragen, ob diese Massnahmen wirklich nötig seien und ob es nicht auch andere Möglichkeiten gäbe, um der paar wenigen schwerwiegenden Fälle Herr zu werden, wurde zu wenig Beachtung geschenkt.

Daniel Schönberger (Google) stellt fest, dass es ein Faktum sei, dass heute mehr Kultur produziert werde denn je. Anbieter wie Google und andere Provider haben neue Absatzmärkte geschaffen und Karrieren ermöglicht, die es vorher nicht gab. Es sei schon immer die beste Strategie gewesen, mit kundenfreundlichen legalen Angeboten den illegalen die Stirn zu bieten.

Kollektive Verwertung

Tagungsunterlagen zu diesem Teil der Veranstaltung:

http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_05_kollektive_verwertung.pdf

Dr. Emanuel Meyer erklärt in seiner Einführung, dass die Verwertungsgesellschaften gestärkt aus der AGUR12 getreten seien. Ihre Arbeit werde von niemandem in Frage gestellt, im Gegenteil man gehe eher davon aus, dass ihre Rolle in Zukunft noch wichtiger werde. Es sei zwar der Tarifdschungel kritisiert worden und man habe auch vor in diesem Bereich nach besseren Lösungen zu suchen, man dürfe aber nicht vergessen, dass die verschiedenen Tarife auch Ausdruck verschiedener Wünsche und Geschäftsmodelle der Nutzer seien. Das Tarifgenehmigungsverfahren dauere zwar zu lange, da sei man sich einig, aber eine Lösung sei bisher nicht in Sicht.

Carlo Govoni ist in seiner anschliessenden kritischen Beleuchtung zum Schluss gekommen, dass die AGUR12 ihr Mandat in diesem Bereich nicht erfüllt habe und dass die vorgeschlagenen Massnahmen einen Tropfen auf den heissen Stein darstellten.

Im anschliessenden Podium hat Andreas Wegelin (SUISA) betont, dass die Transparenzvorschriften der EU von den Schweizer Verwertungsgesellschaften bereits weitgehend erfüllt seien.

Dr. David Aschmann (Bundesverwaltungsgericht) hat in seinem Votum erläutert, dass die AGUR12 recht habe, mit ihrer Analyse der Eigenössischen (ESchK) Schiedskommission, dass sich aber wohl nichts ändern werde, solange die ESchK nicht bereit sei, sich als Gericht zu verstehen und Reglemente zu erlassen. Aus seiner Sicht, sollten die Verwertungsgesellschaften die Tarife selbständiger erlassen können und sich dabei an einen Rahmen bzw. Tarifplan halten, der von der ESchK vorgegeben wird. Dafür sollten die Tarife nicht mehr abstrakt wie Gesetze daher kommen, die nachher kaum umgesetzt werden könnten.

Schrankenregelung

Tagungsunterlagen zu diesem Teil der Veranstaltung:

http://www.martinsteiger.ch/sharing/allmend/20140528_sf-fs_agur12_06_schrankenregelung.pdf

Dr. Emanuel Meyer erwähnt in seiner Einführung, dass in der AGUR12 unter anderem über das vorgeschlagene Verzeichnisprivileg, das Problem der Doppelvergütung durch die Leerträgerabgabe, die Social Media-Schranke und die Umgehung der Urheberrechtsschranken durch technische Massnahmen gesprochen wurde. Als Beispiel für eine typische Urheberrechtsverletzung bei Facebook nennt Meyer das Hochladen eines eigenen Fotos von einer temporären Kunstinstallation.

Prof. Dr. Cyrill P. Rigamonti sieht in einer kritischen Betrachtung keine Notwendigkeit für das Verzeichnisprivileg und stellt in Frage, dass es derzeit tatsächlich wesentliche Fälle gibt, in welchen Schranken des Urheberrechts durch technische Massnahmen umgangen werden. Ich habe auch den Eindruck, dass das Verzeichnisprivileg, so wie es von der AGUR12 vorgeschlagen wurde, viel zu eng formuliert ist und dass es in Zukunft entgegen allen Beteuerung dazu benutzt werden wird, zusätzliche Einnahmen zu generieren.

Im folgenden Podium weist Dr. Christian Laux darauf hin, dass das Urheberrecht bzw. die geistigen Eigentumsrechte ihre Berechtigung vor allem darin haben, dass sie zur Förderung von Innovation beitragen sollen. Eine Social Media-Schranke, wie sie im AGUR12 Bericht vorgeschlagen wird, würde eher zum simplen Kopieren, denn zum Innovieren Anreize schaffen und sei aus seiner Sicht darum eher nicht zu unterstützen. Er würde darum für eine Art Bearbeitungsrecht plädieren, welches immer dann zum Tragen käme, wenn damit Innovation erkennbar würde. Diese Innovation muss nicht nur auf der Werkebene stattfinden, sondern kann auch auf Prozessebene vorliegen.

Dr. Kai-Peter Uhlig (Rechtsanwalt der Filmindustrie) steht neuen Schranken im Urheberrechr grundsätzlich skeptisch gegenüber und ist der Meinung, dass Schranken das Potential haben, Märkte zu verhindern, die allfällige Probleme besser lösen würden und dass diese Schranken oft neue Nutzniesser schaffen, die sich monetäre Vorteile verschaffen können.

Dr. Werner Stauffacher (ProLitteris) bezeichnet das Verzeichnisprivileg als «nice to have«, da es nicht dafür sorgt, dass Geld zum Urheber fliesst. Er ist der Meinung, dass man Schranken einrichten soll, die auch eine Verwertung vorsehen. Die Social Media-Schranke wäre eine solche, da sie mit einer zwingenden Kollektivvertwertung verbunden wäre. Ein hochgeladenes Bild auf Facebook würde dadurch dem Künstler zu seiner berechtigten angemessen Vergütung verhelfen.  Auf die Ideen von Christian Laux eingehend macht er klar, dass er das Urheberpersonenrecht auf keinen Fall aufgeweicht sehen möchte. Es zeigt sich, dass die so harmlos klingende Social Media-Schranke eigentlich eine Art «Internet-Steuer» darstellt. Auch Dr. Grossenbacher weisst darauf hin, dass eine solche wohl schwierig zu vermitteln wäre. (http://www.steigerlegal.ch/2013/12/06/agur12-empfiehlt-pruefung-von-internet-steuer/)

Abschluss

Abschliessend erwähnt Dr. Roland Grossenbacher zum wiederholten Male, dass es richtig sei, dass die AGUR12 nur kleine Brötchen gebacken habe, dass aber mehr in der relativ kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, auch nicht möglich gewesen sei. Eine vertiefte Reflexion der verschiedenen Fragestellungen rund um das Internet im digitalen Zeitalter brauche Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Diese Diskussionen fänden in der Wissenschaft bereits statt und werden bestimmt früher oder später auch in den politischen Diskurs einfliessen. Aus meiner Sicht dürfen wir die vorgeschlagenen Massnahmen der AGUR12 nicht verniedlichen. Es handelt sich da keineswegs nur um kleine Brötchen, die da gebacken wurden. Die repressiven Massnahmen sind gravierend. Der Bundesrat hat sich am 2. Juni 2014 nun das erste Mal zum AGUR12 Bericht geäussert. Er spricht unter anderem von einem «zivilrechtlichen Instrument» und meint damit das im Bericht vorgeschlagene Two-Strikes-Verfahren und damit die Aushebelung des Fernmeldegeheimnisses zugunsten der Unterhaltungsindustrie. (Siehe dazu auch: http://www.steigerlegal.ch/2014/06/02/urheberrecht-im-internet-wie-weiter-nach-der-agur12/)

Andreas Von Gunten, 3. Juni 2014

// Crosspost mit Digitale Gesellschaft

Prognosen-Elend

Weitere zwei Abende hat sich die Lesegruppe der Digitalen Allmend mit Nate Silver beschäftigt und der sich mit der „Berechnung der Zukunft“.

Zu den Stärken von Silver gehört sein journalistisches Vorgehen. Wo er nicht auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann, spricht er mit Experten und benennt diese Quellen. Ein Beispiel ist Jan Hatzius, Chefökonom von Goldmann Sachs. Silver ist von dessen Prognoseleistungen und einer nüchternen Haltung beeindruckt. Hatzius hält es für anhaltend schwierig, den Konjunkturzyklus zu prognostizieren, auch wenn in den USA 45‘000 Indikatoren zur Verfügung stehen.

Die Identifikation von Ursache und Wirkung bereitet Probleme. Kritisch merkt Silver an, dass manche Ökonomen einfach eine Handvoll Indikatoren in den Mixer werfen und das Resultat als Haute Cuisine verkaufen würden. Nicht alles, was etwa mit Rezessionen in den USA korreliert, muss einen ursächlichen Zusammenhang haben. Etwas unglücklich illustriert Silver die Möglichkeit nichtkausaler Korrelation mit Glacéverkäufen und Waldbränden. Tatsächlich verursacht der Glacékauf keinen Waldbrand. Trotzdem sind beide insofern kausal verknüpft, als es eine gemeinsame steuernde Grösse gibt, die Lufttemperatur. Echte nichtkausale Korrelationen lagen zeitweise etwa zwischen der National Football League und der Börsenentwicklung vor.

Mit Hatzius sieht Silver in der ständigen Veränderung der Wirtschaft eine zweite Ursache für die Prognoseproblematik. Eine Kausalität und der entsprechende Aspekt eines Modells mögen eine Zeitlang hinreichend stabil sein, um als Baustein einer Prognose zu dienen. Irgendwann ändert sich die Konstellation so stark, dass Kausalität und Korrelation unscharf werden oder wegfallen.

Beide Problemkreise – Zufallskorrelation und Strukturwandel – würden eigentlich den Schluss nahelegen, dass ein Verstehen des Systems respektive eine qualitative Analyse nötig wären, um die Qualität und Reichweite von Parametern wie Modellen klären zu können. Das ist aber nicht Silvers Ding.

Er nimmt aber eine wohltuend nüchterne Haltung und identifiziert mit Hatzius einen dritten Grund für die Unzuverlässigkeit von Konjunkturprognosen: Die zur Verfügung stehenden Daten „sind auch nicht besser“ als die Prognosen selbst (S. 229). Als Beispiel nennt er den Indikator des Konsumentenvertrauens. Da rückt er das Element in den Vordergrund, dass Konsumenten möglicherweise als letzte merken, wenn etwas schief zu laufen beginnt.

In weiteren Kapiteln geht der Autor dann auf Schach und Poker ein, wobei er genüsslich ein das Thema Mensch gegen Maschine in Form eines Showdowns inszeniert: Kasparow versus BigBlue. Neu ist das nicht. Er bringt aber weiteres interessantes Material und bleibt auch hier lesenswert.

Urheberrechtsgespräch 2014 beim Institut für Geistiges Eigentum (IGE)

Kurzbericht von Hartwig Thomas

Die Urheberrechtsgespräche des IGE finden einmal jährlich statt. Anwesend waren rund 50 Teilnehmer verschiedener am Urheberrecht interessierter Kreise. Diese konnten zu Themen referieren, die sie zum Urheberrecht ins Gespräch bringen wollen. Auf jedes Referat folgt eine Diskussion.

Agenda
1. Begrüssung
2. Vortrag: Dominique Diserens: Recht auf angemessene Entschädigung
3. Vortrag: Christoph Schütz: Lichtbildschutz
4. Vortrag: Peter Mosimann: Durchsetzung von Schranken im digitalen Umfeld
5. Vortrag: Hartwig Thomas: Urheberrechtsanmassung – Copyfraud
6. Varia

Zu 2. und 5. wurden schriftliche Unterlagen an die Teilnehmer verschickt.

1. Begrüssung

Felix Addor eröffnete die Sitzung und hielt fest, dass es in der Sitzung nicht um AGUR12 gehen werde. Der AGUR12-Schlussbericht ist veröffentlicht und an Bundesrätin Simonetta Sommaruga übergeben worden. Der Bundesrat hat noch nicht mitgeteilt, was mit dem Bericht geschehen wird. Die Interpellation Gutzwiller fordert den Bundesrat auf, seine Beurteilung des Berichts und die nächsten Schritte bekanntzugeben. Der Bundesrat wird die Interpellation im Nationalrat am 02.06.2014 beantworten.

Ausserdem ist die parlamentarische Initiative „Schluss mit der ungerechten Abgabe auf leeren Datenträgern“ in der WAK-NR zwar abgelehnt worden, dafür eine Kommissionsmotion (wusste nicht, dass es so was gibt – man lernt nie aus!) lanciert worden, die den Bundesrat beauftragt, Alternativen zur aktuellen Abgabe auf leeren Datenträgern zu unterbreiten.

Schliesslich erwähnt Felix Addor drei EuGH-Urteile
27.03.14: Zugangssperren können mit den Grundrechten vereinbar sein.
08.04.14: Vorratsdatenspeicherung kann mit Privatsphärenschutz kollidieren.
10.04.14: Download aus illegaler Quelle ist illegal [muss aber nicht unbedingt verfolgt werden HT].

Generell ist zu bemerken, dass das Geistige Eigentum die Politik bewegt und eine Flut von Eingaben vom IGE bearbeitet werden muss.

2. Vortrag: Dominique Diserens: Recht auf angemessene Entschädigung
Frau Diserens fordert ein Urhebervertragsrecht und ein im Gesetz verankertes Recht auf angemessene Entschädigung. URG Art 16a würde dann neu lauten:

1. Jedes Nutzungsrecht kann vom Urheber oder seinen Erben nur gegen eine angemessene Vergütung übertragen werden. Dieser Anspruch auf Vergütung ist nicht abtretbar und unverzichtbar.

2. Steht die vertragliche Vergütung in einem Missverhältnis zur Intensität der Nutzung, haben der Urheber oder dessen Erben Anspruch auf zusätzliche Vergütung.

Dieser Vorschlag war schon in der AGUR12 eingebracht worden, wo er keine Mehrheit fand.

Meine Frage, ob damit CC-Lizenzen verboten würden, wurde etwas spitzfindig damit beantwortet, dass man mit CC-Lizenzen keine Nutzungsrechte abtrete.
Der Vorschlag ist ein massiver Eingriff in die Vertragsfreiheit, der auch die Meinungsfreiheit streifen dürfte.

3. Vortrag: Christoph Schütz: Lichtbildschutz
Christoph Schütz und seine USPP stören sich an der Unterscheidung zwischen geschützten Foto-“Werken“ und Fotos ohne Urheberrechtsschutz – insbesondere die wenigen Urteile zu dieser Frage wenig überzeugend sind. Er möchte, dass alle Fotos einem „verwandten Schutzrecht“ unterstellt werden.
Das sei in vielen Ländern Europas heute die Norm.

In der Diskussion habe ich gelernt, warum man die „verwandten Schutzrechte“ des Schweizer URG nicht als „Leistungsschutz“ bezeichnen sollte. Richtiger wäre „Interpretenschutz“. Es geht nicht um das Erbringen einer Leistung – das tut jeder ehrlich arbeitende Mensch, ohne vom Urheberrecht geschützt zu werden – sondern um die Interpretation – etwa des Drehbuchs durch Regisseur und Schauspieler, oder der Komposition durch Musiker. Die Interpreten erbringen offenbar auch eine kreative Leistung, wenn auch anscheinend etwas minderer Art, wie man am Schutzfristenvergleich zwischen Urheberrechten und verwandten Schutzrechten ablesen kann. Darum werden sie im Urheberrecht geschützt. Für einen „Leistungsschutz für Zeitungsverleger“, wie er 2009 vom SP-Präsident Hans-Jürg Fehr im Postulat „Pressevielfalt sichern“ gefordert wurde, ist im URG kein Platz.

4. Vortrag: Peter Mosimann: Durchsetzung von Schranken im digitalen Umfeld
In diesem interessanten Vortrag werden zwei Fehlentwicklungen des Urheberrechts vorgestellt und ein Vorschlag zu deren Behebung präsentiert, der offenbar in der AGUR12 auch keine Mehrheit fand.
Im ersten Teil ging es um explodierende Kosten für das Kopieren wissenschaftlicher Artikel durch Bibliotheken. Im zweiten Teil ging es um Mehrfachbelastungen durch die Kollektivverwertung bei Streaming am Beispiel von spotify. Im von Mosimann zitierten, abgeschmetterten AGUR12-Vorschlag des DUN zu einem neuen Artikel 28bis des URG wird das „Fehlen einer Aufsicht über das Verwertungs- und Vergütungssystem“ bemängelt.

Die für mich schockierendste Graphik dokumentierte die Kosten der Schweizer Universitätsbibliotheken für wissenschaftliche Artikel. Diese nahm in den letzten Jahren laufend zu und stieg 2011, im letzten Jahr der Statistik, um 100% auf das Doppelte des Vorjahrs an (von ca. 6 Mio CHF 2010 auf ca. 12 Mio CHF 2011 ) an.

5. Vortrag: Hartwig Thomas: Urheberrechtsanmassung – Copyfraud
Ich habe die massive Zunahme von Copyfraud an verschiedenen Beispielen dargestellt:

  • UEFA zensiert Dokumentation der Greenpeace-Aktion im Basler Stadion auf YouTube am Tag nach der Aktion unter Berufung auf Urheberrechte, obwohl „News“ gemeinfrei sind.
  • Der Diogenes-Verlag behauptet standfest – auch nach Anfragen – , dass das Urheberrecht an Kafkas Texten bei ihm liege, obwohl diese Texte gemeinfrei sind, weil Kafka 1924 gestorben ist.
  • Eine obskure amerikanische Firma beansprucht Urheberrecht am Hintergrundsrauschen eines privaten Videos, der den Überflug eines AKW beinhaltet, unter dem Titel „Nuclear Sound“.
  • Das Landesmuseum hat ein Plakat „Marie Curie im Labor“ zur Ausstellung 1900-1914 mit einer Fotografie publiziert, die mit dem Vermerk „1905, Fotograf unbekannt, © Bettmann/Corbis“. Der Vermerk bezieht sich eindeutig auf die Fotografie und nicht auf das gestaltete Plakte. Die Fotografie ist schon längst gemeinfrei.

Fazit
Copyfraud ist eine unrechtmässige private Aneignung geistigen Allgemeinguts.
Die Proliferation von Copyfraud mindert den Respekt vor berechtigten Urheberrechtsansprüchen.
Copyfraud kann praktisch nicht sanktioniert werden. Nur Ignorieren mutmasslich falscher Urheberrechtsanmassungen hilft.
Copyfraud wird von strengem Urheberrechtsschutz gefördert. Wer sich im Zweifelsfall ein unberechtigtes Urheberrecht anmasst, muss nicht mit denselben Sanktionen rechnen, wie jemand, der ein berechtigtes Urheberrecht verletzt.
Beim von der AGUR12 vorgeschlagenen Notice-Takedown-Verfahren ist darauf zu achten, dass es den Copyfraud nicht fördert.
Alle Massnahmen zum Schutz privaten geistigen Eigentums sollten auch zum Schutz des öffentlichen geistigen Eigentums eingesetzt werden.

In der Diskussion wird festgestellt, dass es sich um ein relativ unbekanntes Thema handelt. Es gibt nur ein Buch, das sich mit Copyfraud beschäftigt. Eigentlich sei der Missbrauch und die Anmassung in anderen Bereichen des geistigen Eigentums (Marken, Patenten, …) noch viel schlimmer. BioPiracy wird erwähnt. Das Abmahnwesen in Deutschland, das eine Folge der Kriminalisierung des „illegalen“ Downloads ist, lebt zu einem beträchtlichen Teil von ungerechtfertigten Urheberrechtsanmassungen. Dass man Urheberrechtsanmassungen bekämpfen müsse, wird nicht bestritten.

6. Varia
Unter Varia wurde gefragt, worum es bei der im Bericht des IGE erwähnten teilweise gutheissenen Beschwerde gegen eine Verwertungsgesellschaft ging. Die Antwort: Es handelte sich um ungenügende bis unrichtige Information der Mitglieder der Verwertungsgesellschaft bezüglich einer Tarifanmeldung.

Vorschläge zu Themen für das Urheberrechtsgespräch im April 2015 sollten bis Januar 2015 eingereicht werden.

Apéro
Nach der Sitzung habe ich im lockeren Gespräch mit Felix Addor erfahren, dass nächste Woche eine wichtige Patentrechtseinschränkung im Nationalrat unter dem Titel „Behandlungsfreiheit für Ärzte“ behandelt wird.

1. Mai 2014 Hartwig Thomas

Wetter digital

Wenn sich Nate Silver über hunderte von Seiten mit der Berechenbarkeit der Zukunft auseinandersetzt (1), darf das Thema Wetter nicht fehlen. Die Lesegruppe der Digitalen Allmend beugt sich über Gittermodelle und Wetterprognosen.

Erst ziemlich spät, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, wenden sich Naturwissenschaftler auch dem Wetter zu. Das Verständnis des Wettergeschehens und die Prognosefähigkeit bleiben vorerst bescheiden. Ein methodischer Durchbruch gelang Lewis Fry Richardson 1916, als er die Idee des Gittermodells aufs Papier brachte und erste Berechnungen versuchte. Die scheiterten allerdings aufgrund der grossen Kantenlänge, der Beschränkung auf zwei Dimensionen und der fehlenden Rechenkapazitäten.

Das wird von Silver eingängig präsentiert. Weiter geht es allerdings nicht. Dabei würde uns ja mindestens in grossen Zügen interessieren, was denn so gerechnet wird für diese Grids. Immerhin macht Silver mit dem Gridmodell mehr deutlich, als das etwa bei der Erdbebenprognose geschieht.

Der Autor beleuchtet grundsätzliche Probleme von Prognosen über das Wetter und andere dynamische Systeme. Eine Problematik wird unter dem Titel Chaostheorie seit den siebziger Jahren diskutiert. Damals stiess der Meteorologe Edward Lorenz beim Hantieren mit einem Computermodell darauf, dass minimste Änderungen an einem Parameter zu völlig anderen Ergebnissen führen können. Die von mechanistischem Determinismus beseelte naturwissenschaftliche Community war perplex.

Der Volksmund hat das Problem allerdings schön längst im Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, gefasst – die Philosophiegeschichte im dialektischen Umschlagen von Quantität in Qualität. Das nun stammt allerdings nicht von Silver.

Der weist darauf hin, dass die Naturwissenschaften seit der Quantentheorie eigentlich auf die Relativität allen Prognostizierens vorbereitet war. Jahrhunderte lang hatte die Hypothese starke Anhängerschaft, dass die Position und Dynamik der Atome im Universum potentiell analysierbar und die Zukunft darum determiniert und voraussehbar sei. Damit war mit der Quantenmechanik Schluss. Wenn das System nicht deterministisch funktioniert, gibt es auch kein perfektes Modell dafür.

Silver macht uns also eindringlich auf die prinzipiellen Grenzen aufmerksam. Das führt aber zu einem Problem, das dem Autor gar nicht aufzufallen scheint: Wenn das Universum respektive das Wetter so indeterminiert sind, warum sind denn überhaupt Prognosen möglich? Welche Systemeigenschaften erlauben Wetterprognosen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit auf fünf Tage hinaus möglich? Warum nicht nur auf zwei Minuten? Warum nicht auf zwei Jahre hinaus?

Weder beim Thema Erdbeben noch beim Thema Wetter macht uns der Autor einigermassen klar, was ein Modell in Bezug auf Realität überhaupt ist und leisten kann. Wir sind gespannt, was noch folgt. Der Text ist lesenswert und wartet mit interessanten Details auf. Wer hätte gedacht, dass es bei einer 14Tage Wetterprognose besser ist, den langfristigen Durchschnitt zu präsentieren als die Modellergebnisse?

1) „Die Berechnung der Zukunft“

GV der Digitalen Allmend am 13. Mai 2014

Am 13. Mai 2014 um 18:00h findet im Forum Schlossplatz in Aarau, im Atelierraum (OG Nebengebäude) die Generalversammlung der Digitalen Allmend statt.

Informationen zum Veranstaltungsort findest Du hier: http://www.forumschlossplatz.ch/information/serviceteil/ und hier:  http://www.forumschlossplatz.ch/portrait/das-haus/

Die diesjährige GV wird sich dem Thema AGUR12 widmen. Nach den statuarischen Traktanden wird uns Martin Steiger einen kurzen Überblick über die vorgeschlagenen Massnahmen der AGUR12 präsentieren, danach diskutieren wir unsere Standpunkte dazu.

Anschliessend an die GV gehen wir in Aarau noch etwas kleines Essen.

Aus logistischen Gründen bitten wir Dich um eine kurze Nachricht, ob Du teilnehmen wirst, unter folgender Doodle Umfrage: http://doodle.com/achumf2z49hp35x8 oder per E-Mail an avg(at)andreasvongunten.com

Traktandenliste
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1 Begrüssung (18:00)

2 Wahlen des Stimmenzählers und des Protokollführers

3 Änderungsanträge für die Traktandenliste

4 Jahresrückblick des Vorstandes

5 Vorstand & Organisation 2014

6 Finanzen & Revisionsbericht

7 Wahlen

8 Themenschwerpunkt AGUR12 (19:00)

Ende 20:30, Anschliessend Abendessen in Aarau, wer Zeit und Lust hat (mit Anmeldung, damit wir etwas reservieren können).

Datenflut und Prognoseflops

Ob Berufserfahrung am Pokertisch die geeignete Qualifikation für einen Prognose-Experten bilden? Vielleicht schon. Nat Silver jedenfalls nimmt sich in „Die Berechnung der Zukunft“ die Verheissungen von Big Data und die Fehlleistungen mancher Prognosen vor. Die Digitale Allmend hat sich von Beginn weg auch für die Frage interessiert, ob digitale Technologien mit einer gesteigerten Daten- und Informationsmenge auch zu mehr und besserem Wissen beitragen. Mehr Wissen müsste sich auch in besseren Prognosen niederschlagen.

Dass von stetig besseren Prognosen im Computerzeitalter keine Rede sein kann, macht Silver anhand seines Spezialgebiets der US Wahlprognosen klar. Ein hoher Anteil der Prognosen liegt daneben. Und das ist eigentlich auch egal. Wie der Autor anhand einer regelmässig parlierenden TV Expertenrunde zu zeigen versucht, herrscht eine Kultur des raschen Vergessens. Niemand wertet aus oder reflektiert die die zugrundeliegenden Annahmen.

Einleitend geht Silver auf das Spannungsfeld zwischen Information und Wissen ein. Er legt gleich mit der Prognose los, dass „noch viel Zeit verstreichen kann, bis wir gelernt haben werden, Information in nützliches Wissen umzuwandeln“. Dann zitiert er zustimmend Krugmann mit der These, in den 70er Jahren habe es einen riesigen Theorieüberhang auf der Basis geringer Informationsmengen gegeben, mag das in speziellen Gebieten ökonomischer oder meteorologischer Modelle zutreffen. Krugmann bezieht sich auf eine bestimmte Konzeption des Modellbaus. Da wird mit beschränktem Wissen über das zu modellierende System einfach mal modelliert. Dann werden historische Datenreihen durchs Modell gerattert und die Stellschrauben solange gedreht, bis die auftretenden Anomalien minimiert sind. Dann wird in die Zukunft projiziert.

Bei Krugmanns These geht aber der Zusammenhang verloren, dass im Allgemeinen völlig hinreichende Information vorhanden waren, um Vorgänge wie den Ersten Weltkrieg, die Grosse Depression oder die Entwicklungsdynamik der Sowjetunion zu analysieren. Silver verpasst es leider ein weinig, Prognosefelder zu unterscheiden. 1980 den Zusammenbruch der Sowjetunion oder am Montag das Freitagswetter fürs Tessin zu prognostizieren sind doch zwei verschiedene paar Schuhe.

Silver macht deutlich, dass er diesen Methoden auch in der Big Data Variante mit der nötigen Distanz gegenüber tritt. Sein Ansatz ist pragmatisch. Wo er dann allerdings methodische Annahmen deutlich macht, wird es schon mal problematisch. So stellt er die geeignete Grundhaltung eines Prognostikers zur Diskussion. Er bevorzugt die Figur des Fuchses: Der bedient sich verschiedener Fachgebiete und Perspektiven, ignoriert eigene Haltungen und ist offen für Komplexität. Gar nichts hält er von Igeln, die selbstbezogen mit starren Methoden und ideologisch fixiert agieren. So angemessen eine pragmatische Haltung erscheint, das ist doch etwa schlicht auf schwarz-weiss getrimmt. Nun ist ja das Buch auch im Heyne-Verlag erschienen, dem kein Hang zur Überkomplexität nachgesagt werden kann.

Vereinfachung ist allerdings doch unumgänglich, wie die Lebhafte Diskussion der Lesegruppe über das Thema Finanzkrise zeigt. Silver schafft es auf ein paar Seiten, wichtige Züge der Entwicklung zu skizzieren. Er gibt auch einzelne Hinweise darauf, warum etwa die Ratingagenturen nicht rechtzeitig Alarm schlugen. Ihre Modelle waren durch falsche Annahmen unterlegt und das Risiko eines schweren Einbruchs der Immobilienpreise wurde unterschätzt.

Trotz mehrerer wichtiger Beobachtungen gelangt hier Silver mit seinem pragmatisch positivistischen Erklärungsmodell an seine Grenzen. In der Diskussion wird etwa auf die Interessensteuerung hingewiesen: Die meisten Player handelten einfach so, wie es ihren kurzfristigen Geschäftsinteressen entsprach. Weiter wird Silver kritisiert, dass er die Vorstellungswelt nicht analysiert, mit denen die direkten Akteure, aber auch Journalistinnen, Wirtschaftsprofessoren oder Regulierungsbehörden und eine weitere Öffentlichkeit unterwegs waren. Sogar ohne Internet waren in jedem Dorfkiosk die Informationen über die Entwicklung der problematischen Produkte und die ersten Risse im US-Immobilienmarkt greifbar. Wer relevante Information in eine erheblich unangemessene Weltsicht einsortierte, gelangte zu einer verzerrten Einschätzung von Risiken und Handlungsoptionen.

Support für Einsame

Nach den Personenstudien im ersten zieht Daniel Miller im zweiten Teil der Studie Schlussfolgerungen. Da kommt “Das wilde Netzwerk” zu einer erstaunlich wohlwollenden Einschätzung von Facebook.

Einleitend verweist Miller darauf, dass Menschen nicht erst seit der Erfindung von Facebook zu sozialen Netzwerken gehören. Dabei lässt Miller dem Milliardenkonzern die Selbststilisierung zum sozialen Netzwerk durch. Da würde es durchaus klärend wirken, ausdrücklich zwischen Facebook als medialer Infrastruktur und den sozialen Beziehungen, die zwischen den Usern gepflegt werden zu unterscheiden.

Miller sieht durchaus einen Unterschied zwischen Infrastruktur und Beziehung. Das wird in seiner ersten These sichtbar: „Facebook erleichtert das Führen von Beziehungen“. Das meint er nicht einfach in einem elementaren Sinn eines technischen Behelfs. Vielmehr rückt er als Begründung die Defizite der Kontaktaufnahme im ‚wirklichen‘ Leben ins Zentrum: Viele Leute haben Hemmungen, direkt Kontakt zu knüpfen, es besteht die Möglichkeiten zu Komplikationen und Missverständnissen, schon gar wenn es um Liebe geht. Zudem könnten User sich auf Facebook über andere informieren, bevor Kontakt aufgenommen wird. So habe sich Facebook zu einer riesigen Dating-Agentur entwickelt.

In einer weiteren These meint Millter: „Facebook hilft den Einsamen“. Hier spinnt Miller die Argumentation weiter, dass Facebook Möglichkeiten schafft, die Restriktionen des sozialen Lebens zu Überschreiten. So hat der früher im Buch angesprochene Arvind als Farmville Spieler Kontakte gefunden – das Netzwerk hat ihm „zweifellos geholfen“.

Die Rolle von Facebook als Defizit Kompensator löst lebhafte Diskussion aus. Da ist ein weitläufiges Problemfeld angesprochen. Tatsächlich unterliegen viele (oder alle) Menschen Einschränkungen bei Knüpfen von Kontakten. Das hängt auch mit Defiziten in der Alltagskultur des Urban Lifestyle zusammen. In konventionellen Locations bis hin zur Szenebar ist es in Europa – und vielleicht auch in Trinidad – unklar, unter welchen Umständen und wie spontane Kontakte angesagt sind. Da wirkt Millers Position durchaus plausibel: Die Kontaktaufnahme via ein technische Medium ist kühler, mittelbarer, niederschwelliger.

Was bei Miller zu kurz kommt, ist eine Gesamtbilanz von Nutzen und Kollateralschäden: Eine Begleitthese könnte lauten: Wer seine Defizite beim Pflegen von direkten Beziehungen weitgehend durch Mediennutzung kompensiert, bleibt auf seinen Defiziten sitzen. Diese Fragestellung lässt sich allerdings nicht mit Millers Methode klären. Es wäre interessant, Typen von NutzerInnen zu bilden und entsprechende Gruppen über ein, zwei Jahrzehnte zu verfolgen.

Es wäre durchaus interessant zu sehen, wie extensive Facebook-Beziehungspflege als Twen sich auf die Fähigkeit auswirken, zehn Jahre später mit LebensparterIn und ein, zwei lebhaften Kleinkindern im echten 3D Raum zurecht zu kommen. Generell ist Millers Optimismus wohl schon angebracht. Das Beziehungspotential von Menschen ist gross und wird auch Facebook überleben. Im Ausmass geht aber Miller mit seiner positiven Wertung deutlich zu weit. Es fehlt an kritischer Distanz: Nicht weil er mit Milliardenkonzernen sympathisiert, sondern weil er seinen Figuren nicht zu nahe treten will.

Miller bringt eine Reihe von weiteren Thesen zur Sprache, etwa Facebook als Meta-Freund oder die Limiten als Instrument politischer Aktion. Die meisten sind in der Lesegruppen Runde wenig kontrovers diskutiert worden. Unter dem Strich ein wertvolles Buch. Miller bringt relevante Themen auf. Und vor allem: Er fabuliert nicht einfach sondern ist hingegangen, hat mit den Leuten gesprochen und Material gesammelt.

IGE veröffentlicht FAQ zu Public Domain

Das Institut für geistiges Eigentum hat auf unsere Anregung hin eine Zusammenstellung von häufigen Fragen und Antworten zur Public Domain veröffentlicht.

Es geht dabei auf häufige Fragen zur Public Domain ein und beschreibt dabei u.a.:

  • welche Werke nach schweizerischem Recht gemeinfrei sind (wie z.B. geistige Schöpfungen ohne Individualität, amtliche Protokolle und Berichte, wissenschaftliche Daten, 70-Jahre-Regel);
  • was man alles mit Werken in der Public Domain machen kann;
  • inwiefern originalgetreue Digitalisierungen eines gemeinfreien Werkes nicht zu einem Urheberrechtsschutz führen;
  • wann es erlaubt ist den DRM Schutz von gemeinfreien Werken zu umgehen.

Die FAQ sind besonders wertvoll, weil sie auch die Grenzen von urheberrechtlichen Ansprüchen auf der Website des Instituts für Geistiges Eigentum klar macht. Bisher kursierten vielerorts Annahmen und Thesen, beispielsweise über den urheberrechtlichen Schutz von Scans von gemeinfreien Bildern. Mit ihren Antworten schaffen die Experten des Instituts für geistiges Eigentum Klarheit bezüglich der Rechtssituation in der Schweiz.

Die FAQ liegen aktuell auf Deutsch vor und werden demnächst auch in den anderen Landessprachen erscheinen. Zudem werden in naher Zukunft weitere Antworten zu Fragen bezüglich internationaler Aspekte erscheinen.

Die Fragen wurden vom Verein Digitale Allmend in Kooperation mit weiteren Organisationen im In- und Ausland gesammelt und vom Institut für Geistiges Eigentum anschliessend beantwortet. Es sind Fragen, die sich uns bei der Arbeit für Wikipedia, OpenGLAM, Re:Public Domain und bei weiteren Aktivitäten immer wieder gestellt haben. Wir danken dem Institut für Geistiges Eigentum für seine Kooperationsbereitschaft.

Postkoloniale Gemengelage

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend bespricht weitere Fallstudien der Internetkultur auf Trinidad. Vieles im Material von Daniel Miller gleicht den Verhältnissen, wie wir sie in Europa kennen. Die digitale Moderne überlagert sich aber mit Elementen des kolonialen Erbes zu einer komplizierten Gemengelage.

Das zeigt sich etwa in der Figur von Arvind, der dem Facebook online Game Farmville verfallen ist. Der Autor macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen eine Haltung, die der besten Tradition Trinidads direkt entgegenläuft. Die sieht Miller in der Figur von Eric Williams (1911-1981) verkörpert. Der führte Trinidad in die Unabhängigkeit und engagierte sich, um der kolonialen landwirtschaftlichen Rohstoffabhängigkeit eine wirtschaftliche Alternative mit mehr Wertschöpfung entgegen zu stellen.

Und was tun nun Jugendliche wie Arvind? Sie spielen ein Landwirtschaftsspielchen, dass ihnen ein US-Konzern anbietet.

Nun ist Miller allzu sehr Ethnologe, um da stehen zu bleiben. Er sieht sich die soziale Lage von Arvind genauer an, der zu den Verlierern einer neueren Entwicklung gehört. Er ist kein Sprössling der Oberschicht, welche sich wenig um den lokalen Kontext kümmert und den Nachwuchs an den besten Schulen und internationalen Unis platziert. Persönlich erscheint Arvind eher scheu und gehemmt. Facebook und Farmville erlauben ihm, vor dem Bildschirm auf indirektere Art dabei zu sein. Schlussendlich nimmt Miller von jeglicher Verurteilung Abstand. Sein Vorschlag, Medien wie Facebook oder Farmville „nach ihrem Nutzen für die Benachteiligten“ zu beurteilen, führt allerdings zur weiteren Frage, wie dieser Nutzen gefasst werden kann.

Noch sind wir allerdings bei den eher beschreibenden Fallbeispielen. Im Schlussteil des Buches will der Autor dann das Material analysieren.