Urheberrecht: Debatte der Thesen – Widerspruch zur dritten These

urs hat in diesem Blog eine Reihe von Thesen zum Urheberrecht zur Debatte gestellt.  Diese haben bei mir einigen Widerspruch hervorgerufen. Auf These 1 und These 2 bin ich schon eingegangen. Die dritte These lautete:

Zentraler Gesichtspunkt bei der Regulierung kultureller Sphären ist das Gemeinwohl, das öffentliche Interesse. Weder eine Sparmentalität von KonsumentInnen noch die Spezialinteressen bestimmter Teile der Kreativwirtschaft gegenüber andern Teilen derselben können einfach Gemeinwohl definieren. Der Aspekt der öffentlichen Verfügbarkeit steht kaum bestritten im Zentrum, aber nicht allein. Es liegt ebenso im öffentlichen Interesse, Diversität und Qualität kultureller Produkte zu fördern. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, angemessene Abgeltungsmechanismen zu etablieren. These 3: Es liegt im öffentlichen Interesse, bei kulturellen Gütern die öffentliche Verfügbarkeit, die Qualität,  die Diversität und eine angemessene Abgeltung der ProduzentInnen  zu optimieren.

Die These besagt, die Allgemeinheit habe ein Interesse, dass bei kulturellen Gütern

–          öffentliche Verfügbarkeit

–          Qualität

–          Diversität

–          angemessene Abgeltung der Hersteller

optimiert würden.

Ich bin nicht überzeugt, dass man schon so früh in der Diskussion das neoliberale Konzept von Kultur als Ware („Güter“) unwidersprochen annehmen sollte, lasse diesen Aspekt der vorliegenden These aber mal beiseite.

Dann fragt sich, was hier „optimieren“ heisst. Das deutet auf den berühmten und immer wieder angerufenen „Ausgleich“ hin. Dazu müssten die drei angeführten Punkte aber wenigstens teilweise im Gegensatz zueinander stehen. Dies ist nicht der Fall, wie etwa das Beispiel Goethe zeigt: er produzierte Qualität, Diversität, die öffentlich verfügbar waren, und verdiente verdammt gut dabei. Man müsste mindestens noch den Punkt der Verfügbarkeit dahingehend verfeinern, dass die Verfügbarkeit auch einen bezahlbaren Preis und eine wirklich freie Nutzung beinhaltet. Nur so wird eine „Optimierung“ draus.

Es fällt als erstes auf, dass dieser fromme Wunsch der These 3 nicht nur für Kultur sondern auch für Lebensmittel, Heilmittel, Wohnungen zutrifft. Es ist sozusagen die Grundfigur aller ökonomische „Optimierungen“ und aller frommen Optimierungswünsche. Aus diesem Grund eignet sich die These sicher schlecht, um daraus unterschiedliche Behandlung von Kultur und Birnen abzuleiten.

Schauen wir uns aber erst einmal die einzelnen Punkte an, die da optimiert werden sollen:

Die Forderung der Verfügbarkeit unterstellt, dass ein Werk schon existiert aber nicht publiziert wird oder momentan vergriffen ist. Man kann ja kaum einen Urheber dazu zwingen, dass er sein Manuskript publiziert, bevor er dies wünscht. Als „Kulturgut“ existiert es erst, wenn es publiziert ist. Somit scheint sich die Forderung der Verfügbarkeit auf die vergriffenen, verwaisten, vergessenen Werke zu beziehen. Diese wird sicher bei abwesendem Urheberrecht am besten erfüllt, da das Exklusivitätsmonopol des heutigen Urheberrechts der einzige Grund für Nichtverfügbarkeit ist. Beim Patentrecht ist das noch extremer: dort werden heute meistens Erfindungen geschützt, um sie vom Markt fernzuhalten.

Bei der Qualität stock‘ ich schon.

[Exkurs Qualität allgemein

Die Qualitas, das Wie-Sein, ist sicher nicht etwas, was „optimiert“ werden kann. Der Optimierung (Maximierung, Minimierung) zugänglich ist nur die Quantitas, das Wieviel-Sein. Jedes Ding hat schrecklich viele Qualitäten, wie Farbe, Ausdehnung, Geruch, etcetera. Jede dieser Qualitätsachsen ist möglicherweise quantitativ messbar: rot, röter, am rötesten.

Das – heute leider allgemein verbreitete – Gerede von der „hohen“ Qualität ist daher nichts als Schaumschlägerei. Bei der klassischen Qualitätssicherung (ISO 9000) geht es gerade nicht um das „Optimieren“ von Qualität, sondern um das „Sichern“ einer gleichbleibenden Qualitas, einem gleichbleibenden Wie-Sein. Es ist mir als Käufer neuer Reifen, neuer Pharmaka oder als Flugpassagier wichtig, dass die dabei relevanten Produktionsprozesse gleichbleibende Qualitäten erzeugt haben. Das besagt nun absolut nichts über die Nützlichkeit oder Verbesserbarkeit dieser Produkte und ob sie für mich von „hoher“ Qualität sind. Die Autoreifen sind mir nicht nützlich weil ich kein Auto habe, und somit für mich von tiefer Qualität. Die Medizin könnte durch eine besser gegen meine Krankheit wirkende, ebenfalls qualitätsgesicherte, abgelöst werden. Die Qualitätssicherung schützt nur davor, dass in einem Los plötzlich zuviel Arsen enthalten ist.

Qualitätssicherung im Dienstleistungs- und sozialen Bereich ist sogar oft kontraproduktiv, weil die Garantie gleichbleibender Qualität eine grundsätzlich konservative Forderung ist. Viele sozial Tätigen sollten hingegen darauf hin arbeiten, sich überflüssig zu machen, statt ihre Stellung zu zementieren. So etwa in der Arbeitslosen- oder Behindertenindustrie.

Ende Exkurs Qualität allgemein]

Gut gefällt mir an der Qualitätsforderung, dass der Autor dieser These auf ein gewisses Überangebot von Kultur zu reagieren scheint. Wenn uns heute – finanziert von Pauschalabgaben, gegen die wir uns nicht wehren können – in jeder Bahnhofunterführung, in jeder Beiz, in jedem Warenhaus Hintergrundsmusik (auch Muzak genannt) nervt, sodass wir uns nur mit Stöpseln in den Ohren und Gegenlärm von – ebenfalls über Pauschabgaben finanzierter – Musik der eigenen Wahl aus dem iPod dagegen abschirmen können, ist die für die Allgemeinheit nützliche Qualität sicher nicht mehr gegeben.

Gratiszeitungen, die unsere Trams und unsere Hirne verschmutzen, haben wie Muzak offenbar das wünschbare nachgefragte Ausmass an „kulturellen Werken“ überschritten, obwohl sie zu den wichtigsten vom Urheberrecht geschützten und geförderten Kulturzweigen gehören, und – wie das vielgescholtene Internet – die allgemeine Gratismentalität fördern. Es ist also nicht alles, was heute als „Werk“ geschützt ist, im Interesse der Allgemeinheit.

Die Forderung der Diversität, also der Vielfalt, steht auf den ersten Blick im Gegensatz zur konservativen Forderung nach Qualität. Zum mindesten ist dies ein Instinkt, den wir aus dem industriellen Zeitalter geerbt haben. Bei der für dieses Zeitalter typischen Massenproduktion kommt Diversität unweigerlich unter die Räder. Aber gerade bei Kultur, bei der Verfertigung von Romanen oder Symphonien, dürfte es schwierig sein, etwas anderes als Diversität zu erreichen, da verschiedene Werke eben verschieden sind. Also kann Diversität in diesem Kontext höchstens noch mit der Anzahl neuer Titel gemessen werden. (Die Anzahl alter Titel kann man ja nicht mehr steigern. Ausserdem interessiert sich die Rezeption vor allem für Neues.)

Man sollte also eher eine angemessene Anzahl Neuerscheinungen fordern – allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese die nachgefragte Menge bei Nullpreis nicht überschreitet, wie dies bei Muzak der Fall ist.

Die Forderung der angemessenen Abgeltung der Produzenten klingt auf den ersten Blick sympathisch. Wer kann dagegen sein, dass jemand für seine Arbeit angemessen entlöhnt wird. Wenn man sich das aber genauer anschaut, ist es weniger offensichtlich. Was unterscheidet den nicht angemessen bezahlten Künstler von anderen Dienstleistern? Der Künstler arbeitet ohne Auftrag und produziert ein nicht nachgefragtes Produkt. Sonst hätte er ja schon ein angemessenes Honorar beim Auftraggeber vereinbart. Warum soll nun jemand, der etwas herstellt, was niemand bestellt hat, „angemessen“ entlöhnt werden? Letztlich läuft diese Forderung auf ein bedingungsloses Grundeinkommen hinaus. Jeder kann sich zum „Urheber“ erklären und irgendwelche „Werke“ herstellen, auf die niemand gewartet hat. (Ich sehe zwar durchaus ein paar politische Vorteile bei einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ein solches steht aber hier nicht zur Diskussion und ist sicher nicht über ein Urheberrechtsgesetz einzuführen.)

Fazit 1: Die These ist im Zusammenhang mit der Urheberrechtsdiskussion nicht zielführend, da sie auf jegliche andere ökonomische Tätigkeit mit gleichem Recht zutrifft.

Fazit 2: Die folgende Umformulierung, die schon in meiner Antwort auf These 1 angedeutet wurde, könnte an die Stelle von These 3 gesetzt werden und für die Begründung von Urheberrechtsregeln als Basis dienen:

Antithese zur These 3:

Die Allgemeinheit hat zwei, möglicherweise widersprechende, Interessen:

  • freien, preisgünstigen Zugang zu kulturellen Werken,
  • Vorhandensein von kulturelle Werke nach Massgabe ihrer Nachfrage.

Es ist denkbar, dass urheberrechtliche Regelungen zwischen diesen beiden Zielen einen „Ausgleich“ herstellen müssen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die kulturelle Produktion völlig eingestellt wird, wenn der Zugang zu kulturellen Werken frei und preisgünstig oder gratis ist.


Urheberrecht: Debatte der Thesen – Widerspruch zur zweiten These

urs hat in diesem Blog eine Reihe von Thesen zum Urheberrecht zur Debatte gestellt.  Diese haben bei mir einigen Widerspruch hervorgerufen. Auf These 1 bin ich schon eingegangen. Die zweite These lautete:

Wenn schon gesetzliche Regulierungen, dann sollten sie auf realitätsnahen Konzepten beruhen. Trifft das auf die Kerngriffe der Urheberschaft und des Werks zu? Als Reaktion auf den Geniekult des späten 19. Jahrhunderts haben soziologische respektive strukturalistische Positionen an Gewicht gewonnen. Sie relativieren oder negieren subjektive kreative Leistungen. Solche Ansätze wirken in zugespitzter Form weder alltagstauglich noch plausibel. Bei den meisten kulturellen Produkten erscheint ein zweischichtiges Modell angemessen. Soziokulturell ist jedes Werk eingebettet und basiert gebrochen oder direkt auf Traditionen, vorhandenen Materialien und Leistungen anderer.  Die Entstehung des konkreten Werks ist eine subjektive Leistung eines oder mehrere Individuen. Das spricht für

These 2: Urheberschaft und Werkbegriff sind brauchbare Konzepte im Hinblick auf eine pragmatische Konfliktregulierung.

Unser Urheberrecht ist einerseits als übertragbares, handelbares Copyright für die Verwerter (Verleger, Labes, Studios) konstruiert. Andererseits als Droit Moral, als Persönlichkeitsrecht für die Urheber.

Diese doppelte Verankerung resultiert daraus, dass das Verlegerprivileg nach Abschaffung der Zünfte mit Einführung der Gewerbefreiheit nicht mehr richtig vertretbar war. Das ursprüngliche „Eigentum“ eines Urhebers an seinem Werk schien philosophisch und juristisch leichter formulierbar und begründbar.

Schon seit der allerersten Einführung des Urheberrechts war es so, dass die „hungernden Künstler“ als Legitimierung herhalten mussten, warum man den reichen Verwertern Monopolrechte einräumen müsse. Ausserdem seien die Investitionen in Kulturvervielfältigung und das Risiko so hoch, dass nur mittels Exklusivrechten Kultur ökonomisch überhaupt entstehen könne.

In der These 2 geht es um die Begriffe Urheber und Werk, die eindeutig zur Sphäre des Droit Moral, der Persönlichkeitsrechte, gehören. Die angesprochene pragmatische Konfliktregulierung betrifft aber Konflikte zwischen Nutzern und Verwertern, welche auch am verbissensten um eine stets zu verschärfende Regelung und um das Immaterialgut als auf einem „freien Markt“ handelbare Ware kämpfen.

Obwohl das Urheberrecht jeweils bei Urheber und Werk verankert wird, spielen Urheber und Werk bei der eigentlich intendierten ökonomischen Wirkung kaum eine Rolle. Man kann auch beide Aspekte recht gut trennen, wie die angelsächsische Tradition beweist, wo es mehr um übertragbare, handelbare, kulturelle Exklusivrechte für Verwerter, und der naturrechtlich abgestützte  Werkbegriff und das Konzept Urheber weniger wichtig sind.

Der heute oft angeführte Gegenpol zur naturrechtlichen Begründung des Urheberrechts ist vor allem eine Argumentation des maximalen gesellschaftlichen Nutzens, basierend auf einem eher am Modell des Gesellschaftsvertrags orientierten Rechtsverständnis. Die im Vorspann der These angeführten nebulöseren strukturalistischen, soziologischen Gegenpositionen zur einsamen Originalgenie-Schöpfung sind da eher ein Nebenschauplatz.

Ich spalte die These 2 deshalb in zwei Teile: Copyright und pragmatische Konfliktregelung einerseits und moralisches Recht des Urhebers andererseits.

Eine pragmatische Konfliktregelung ist erwünscht. Die Konfliktpartner sind aber Nutzer und Verwerter und die Konzepte „Werk“ und „Urheber“ sind zur Konfliktregelung wenig hilfreich. Wenn man dieses Konzept von Kultur als handelbare Ware schützen will, muss man auf den Publikationszeitpunkt und nicht den Todeszeitpunkt des Urhebers abstellen. Ausserdem ist vom ökonomischen Nutzen und allfälligem Schaden auf beiden Seiten zu reden und nicht von den moralischen Rechten des Urhebers. Letztere werden dem Urheber in Europa traditionellerweise auf immer und ewig in den unfairsten Verträgen von Anfang an von den Verwertern abgekauft. So verbietet der allgemein übliche europäische Verlagsvertrag etwa dem Urheber jegliche Nutzung selbst wenn der Verlag entscheiden sollte, das Werk nicht zu publizieren! Vor allem müsste auch zur Sprache kommen, welche kulturellen Güter aufgrund der monopolistischen Exklusivrechte im Urheberrecht gar nicht geschaffen werden, wodurch ja Urheber und Nutzer am meisten geschädigt werden. (Höffner argumentiert überzeugend, dass Goethes Faust wohl nicht geschrieben worden wäre, wenn das Urheberrecht schon in Kraft gewesen wäre …)

Nun zum moralischen Recht des Urhebers an seinem geistigen Eigentum. Das steht auch auf ziemlich unsicherem Fundament. Solange der Urheber nicht publiziert, ist er in derselben günstigen Situation des Unikatbesitzers wie die gemäss These 1 von der Abwesenheit jeglichen Urheberrechts bevorzugten Maler, Bildhauer und Performer. Was für den Maler sein Gemälde ist, ist für den Schriftsteller sein Manuskript.

Aber jegliche Kultur realisiert sich erst in der Kommunikation. Und zur Kommunikation gehören mindestens zwei. Und es ist nicht so völlig offensichtlich, ob ein Brief als „geistiges Eigentum“ mehr dem Absender oder dem Adressaten „gehört“. In einem gewissen Sinn ist der Erfolg der kulturellen Superstars mehr vom Publikum als vom Urheber hergestellt. Oscar Wilde hat jedenfalls die Kritiker als schöpferische Mitautoren eines Werks gewürdigt. Mit der unumkehrbaren Publikation hat der Urheber eben angefangen auf die völlige Verfügbarkeit zu verzichten und ist in einen Dialog mit dem Nutzer getreten.

Ausserdem ist das Konzept des einzelnen Urhebers völlig fragwürdig in einer Zeit der kulturellen Grossprojekte wie Oper, Kino, Hallenstadionspektakel. An solchen Projekten sind viele Geldgeber und viele Urheber beteiligt und die idealistische Konzeption des „geistigen Eigentums“ scheitert kläglich. Besonders stossend wird das bei den Filmen sichtbar, wo man Faute de mieux völlig ungerecht und hilflos den Regisseur als den alleinigen Urheber definiert, der sich die Rechte beim Drehbuchautor und beim Komponisten besorgen muss, damit man wenigstens weiss, von wessen Tod an die Schutzfrist läuft. Diese Ungerechtigkeit hat in den Neunzigerjahren in der Schweiz zu einem grossen gerichtlich ausgetragenen Konflikt zwischen Regie einerseits und Kamera/Schnitt/Maske/Bauten andererseits geführt. Dabei wurde mindestens Kamera und Schnitt eine Art minderes Urheberrecht am Film zugestanden. Das Ganze ist aber höchst unbefriedigend, da die juristisch in einem Nebensatz erwähnte Mehrfachurheberschaft als eine Art  einfache Gesellschaft vom pragmatischen Standpunkt her eine sehr unpraktische Regelung ist.

Dass es den Urhebern selbst nicht wirklich ernst ist mit ihrem „geistigen Eigentum“, sieht man daran, dass sie zwar oft furchtbar Angst haben, man könnte Ihnen „Ideen klauen“, aber niemals bereit wären, eine solche klaubare Idee in ihrer Steuererklärung als entsprechenden Vermögenswert mit dem Betrag aufzuführen, den sie bei einer Abmahnung verlangen.

Ein letztes Ärgernis ist die immer „kleinere Münze“, die vom Urheberrecht aufgrund der etwas abstrusen romantisch-philosophischen Begründung des Eigentums des Urhebers an seinen Ideen geschützt wird. Auch aus psychologischer Sicht tut dieses individualisierte Urheberrecht den Künstlern nicht gut. Es produziert Verfolgungswahn: „Man könnte meine Ideen klauen“, und Verhältnisblödsinn. Denn jedermann hat viele Ideen, wenn der Tag lang ist. Genie = 1% Inspiration (Ideen)  + 99% Perspiration (Umsetzung).

Wahrscheinlich ist heutzutage ein Schutz der Investition des industriellen Herstellers der Vervielfältigung der Werkexemplare (Bücher, CDs, Filme) bald überhaupt nicht mehr nötig, da im Zeitalter des Internets die Kosten des Urhebers diejenigen des Verwerters überholt haben und sinnvollerweise heute jeder Urheber als eigener Produzent (im Selbstverlag) publizieren und die Verwerter für ihre einzelnen Dienstleistungen bezahlen würde (Print-On-Demand-Modell).

Sollte aber der Schutz der grossen Investition und des Risikos der Verwerter als wesentlich erachtet werden, dann würde man dieses Copyright besser bei diesen juristischen Personen plazieren anstatt auf ein dubioses idealistisches Recht des Urhebers an seinem Eigentum bezugzunehmen. Ausserdem wäre der relevante Zeitpunkt nicht der Zeitpunkt der privaten Schöpfung, sondern derjenige der Publikation. Und letztere würde in Anbetracht der grossen Investitionen sinnvollerweise von einem offiziellen Registrierungsakt begleitet, wie dies früher im US-Copyright der Fall war. So gäbe es keine verwaisten Werke, es gäbe keine kleine Münze und es gäbe keine urheberrechtliche Rechtsunsicherheit. Auch allfällige Schäden und ökonomischen Folgen wären klar bezifferbar ohne Diskussionen über die Seele des Urhebers und seine moralischen Rechte.

Die einzigen Droits Morals, die einen gewissen Sinn haben, sind Attribution und die Forderung nach Integrität bei der Reproduktion. Die stehen aber auf einem anderen Blatt und hängen mit Betrug, übler Nachrede und Plagiat zusammen.

Zweite Antithese:

Die romantisch-idealistischen naturrechtlich abgestützten Begriffe von Urheber und Werk sind nur bedingt nützlich. Für eine pragmatische Konfliktlösung taugen sie nicht.

Urheberrecht: Debatte der Thesen – Widerspruch zur ersten These

urs hat in diesem Blog eine Reihe von Thesen zum Urheberrecht zur Debatte gestellt.  Diese haben bei mir einigen Widerspruch hervorgerufen. Die erste These lautete:

Ist es überhaupt nötig und legitim, dass die Gesellschaft mittels staatlicher Gesetzgebung in die Produktion und Distribution kultureller Güter eingreift?  Es wäre durchaus denkbar, einfach nur generelle Marktregulierung des Obligationenrechts wirken zu lassen. Das allerdings ergäbe eine massive Marktverzerrung zugunsten kultureller Leistungen, die an unikate materielle Objekte (Malerei) oder an Performance (Events) gebunden sind. Und zugunsten von kulturellen Leistungen, die der Staat im Angestelltenverhältnis entschädigt, etwa im Bildungswesen. Darum die These 1: Es ist durchaus gerechtfertigt, dass  schöpferische Leistungen gesetzlich geschützt werden.

Es lohnt sich vielleicht zu Anfang einen missverständlichen Nebenpunkt aus dem Weg zu räumen: Das Wort „Marktverzerrung“ wird gerne von Neoliberalen gebraucht, die so etwas wie einen freien Markt im Naturzustand unterstellen und alle Abweichungen davon tendenziös als – natürlich negativ zu bewertende – Verzerrung bezeichnen. Gerade das Urheberrecht lehrt uns, dass es diesen Naturzustand gar nicht gibt. Ohne den Rahmen eines Rechtsstaates, der garantiert, dass man auf den zum Marktflecken führenden Wegen nicht von Strassenräubern ausgeraubt wird, gibt es keinen „freien“ Markt. Und ohne die vom Staat garantierte Ausschliesslichkeit des heute geltenden Urheberrechts gäbe es gar kein Immaterialgut, das auf diesem Markt verkauft werden könnte. Als Basis für meine Argumentationen zu dieser und den folgenden Thesen möchte ich hier ein etwas einfach gestricktes Modell meines Ökonomieverständnisses zugrunde legen: Die herrschende Ökonomie ist immer bezogen auf den Rahmen der herrschenden Gesetze, die von der totalen Gewalt der Staaten bzw. der in  Staatsverträgen zusammengeschlossenen Staatengemeinschaften garantiert werden.  Soweit sich überhaupt ökonomische Gleichgewichte einstellen, handelt es sich um Optimierungen in diesem Rahmen, wie eine Seifenblasenhaut die Oberfläche in einem Drahtrahmen minimiert [so wie hier]. Alle möglichen Regelungen „verzerren“ den Markt gegenüber jeder anderen Regelung. Diese Tatsache kann nicht als moralisches Negativum gewertet werden.

Das  Argument, das zur These 1 angeführt wird, überzeugt mich auch darum nicht, weil nicht offengelegt wird, warum es schlimm wäre, wenn Gemälde, Statuen und Aufführungen einen Marktvorteil gegenüber Büchern, Fotografien, Filmen und CDs hätten. Wer übrigens mit der heutigen Regelung am meisten geschützt wird, sind die subventionierten Künstler und die kulturellen Superstars – wie etwa Madonna und die Erben von Michael Jackson –, deren  Einkommen die Boni der Banker oft noch übertrifft. Und ich ziehe die Legitimität des gesetzlichen Schutzes dieser schöpferischen Leistungen genauso in Zweifel wie die der genannten Boni.

In der Schweiz gilt als Künstler wenig, wer keine Subvention erhält. Um Subventionen auszuzahlen, benötigt man keinen speziellen gesetzlichen Schutz von Leistungen. Das haben die Ostblockstaaten wie die DDR deutlich vorexerziert, bei denen die Schriftsteller Staatsangestellte mit festem Monatsgehalt waren und im Wirtschaftskrieg mit dem Westen grundsätzlich kein Urheberrechtsschutz respektiert wurde.

Es ist zuerst einmal nicht einzusehen, warum kulturelle Leistung eines zusätzlichen Schutzes bedarf, verglichen mit den Leistungen aller anderen Menschen im Land. Wer vom in den letzten hundert Jahren gewachsenen Schutz profitiert, sind nicht die Künstler sondern die Verleger, Labels und Studios. Es ist nicht einzusehen, warum die in diesen Branchen arbeitenden Menschen grundsätzlich einen höheren Lohn haben sollen, als Metzger, Pfleger oder Programmierer.

Das einzige brauchbare Argument für einen gesetzlichen Schutz kultureller Güter, der über die Vertragsfreiheit hinausgeht, ist die Behauptung, dass ohne diesen Schutz keine Kulturgüter produziert würden, weil den Urhebern der Anreiz zur kreativen Tätigkeit fehlen würde. Die Gesellschaft, die vor allem aus Nichtkünstlern, aus „Nutzern“ besteht, will zwar einerseits möglichst wenig bezahlen, ist aber andererseits an der Produktion neuer kultureller Güter interessiert. Wenn diese mangels Anreiz auf Null sinkt, wäre dies ein gesamtgesellschaftlicher Verlust.

Nun gibt es aber äusserst überzeugende Analysen (Höffner, Geschichte und Wesen des Urheberrechts), die zeigen, dass die Einführung des Urheberrechts in Deutschland, Grossbritannien und Frankreich zu

–          Rückgang der Anzahl Titel,

–          Reduktion der Autorenhonorare, und zu

–          von einfachen Leuten nicht bezahlbaren Preisen

geführt hat.

Das entspricht auch der Erfahrung mit Open Source Software, die zu einem Boom von Werken und Einkommen geführt hat, nicht zu einem Aufhören jeglicher Produktion.

Selbst wenn dies nicht so wäre, müsste man ja vor allem diejenigen schützen, deren Werke ohne den Schutz nicht produziert würden. Das sind aber nicht die Bestseller und die Superstars, sondern die Robert Walsers etc., die wirklich existenzielle Probleme haben. Gerade gegen diese wendet sich aber das besitzstandwahrende Urheberrecht, welches die Erfolgreichen gegen die Prekären schützt.

So komme ich zur ersten Antithese:

Es ist keineswegs ausgemacht, dass gesetzlicher Schutz schöpferischer Leistungen überhaupt gerechtfertigt ist. Jeder gesetzliche Schutz schöpferischer Leistungen muss zum Mindesten genau daraufhin untersucht werden, wie weit er nicht geraden den intendierten Zielen schadet.

Urheberrecht: Thesen zur Debatte

Moderne pluralistische Gesellschaften leben von freier Kommunikation und vielfältigen kulturellen Inhalten. Content ist auch in der digitalen Medienwelt das Lebenselixier. Die grossen Geldströme fliessen allerdings an den Kulturproduzenten vorbei, hin zu den Geräteherstellern und Werbeplattformen. Die KonsumentInnen zeigen sich durchaus spendabel. Allerdings eher für harte Ware, weniger für kulturelle Inhalte. Ist in diesem Umfeld das Urheberrecht ein geeignetes Mittel, um berechtigte Interessen der SchöpferInnen von flüchtigen Inhalten zu schützen?

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich mit der Problematik beschäftigt (1). Erstaunlicherweise ist bei deutlicher Kritik in einzelnen Punkten die Grundhaltung zum Urheberrecht erstaunlich moderat geblieben. Das ruft nach Debatte, in der das Spektrum der Einschätzungen auf der Digitalen Allmend sichtbar wird. Dem dienen die folgenden Thesen. Sie wollen einige gesellschaftspolitische Aspekte in zugespitzter Form zur Diskussion zu stellen.

Ist es überhaupt nötig und legitim, dass die Gesellschaft mittels staatlicher Gesetzgebung in die Produktion und Distribution kultureller Güter eingreift?  Es wäre durchaus denkbar, einfach nur generelle Marktregulierung des Obligationenrechts wirken zu lassen. Das allerdings ergäbe eine massive Marktverzerrung zugunsten kultureller Leistungen, die an unikate materielle Objekte (Malerei) oder an Performance (Events) gebunden sind. Und zugunsten von kulturellen Leistungen, die der Staat im Angestelltenverhältnis entschädigt, etwa im Bildungswesen. Darum die These 1: Es ist durchaus gerechtfertigt, dass  schöpferische Leistungen gesetzlich geschützt werden.

Wenn schon gesetzliche Regulierungen, dann sollten sie auf realitätsnahen Konzepten beruhen. Trifft das auf die Kerngriffe der Urheberschaft und des Werks zu? Als Reaktion auf den Geniekult des späten 19. Jahrhunderts haben soziologische respektive strukturalistische Positionen an Gewicht gewonnen. Sie relativieren oder negieren subjektive kreative Leistungen. Solche Ansätze wirken in zugespitzter Form weder alltagstauglich noch plausibel. Bei den meisten kulturellen Produkten erscheint ein zweischichtiges Modell angemessen. Soziokulturell ist jedes Werk eingebettet und basiert gebrochen oder direkt auf Traditionen, vorhandenen Materialien und Leistungen anderer.  Die Entstehung des konkreten Werks ist eine subjektive Leistung eines oder mehrere Individuen. Das spricht für These 2: Urheberschaft und Werkbegriff sind brauchbare Konzepte im Hinblick auf eine pragmatische Konfliktregulierung.

Zentraler Gesichtspunkt bei der Regulierung kultureller Sphären ist das Gemeinwohl, das öffentliche Interesse. Weder eine Sparmentalität von KonsumentInnen noch die Spezialinteressen bestimmter Teile der Kreativwirtschaft gegenüber andern Teilen derselben können einfach Gemeinwohl definieren. Der Aspekt der öffentlichen Verfügbarkeit steht kaum bestritten im Zentrum, aber nicht allein. Es liegt ebenso im öffentlichen Interesse, Diversität und Qualität kultureller Produkte zu fördern. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, angemessene Abgeltungsmechanismen zu etablieren. These 3: Es liegt im öffentlichen Interesse, bei kulturellen Gütern die öffentliche Verfügbarkeit, die Qualität,  die Diversität und eine angemessene Abgeltung der ProduzentInnen  zu optimieren.

Der übergeordnete Wert der Informations- und Meinungsfreiheit setzt Prioritäten. Schutzrechte wie das Urheberrecht dürfen Grundrechte nicht tangieren. Das Gesetz handhabt die Problematik, indem Information, Wissen oder Meinungen gar nicht reguliert werden, meint These 4: Das Urheberrecht stellt keine substantielle Einschränkung der Information- und Meinungsfreiheit dar. Es reguliert nicht den Fluss von Informationen, Wissen oder Meinungen, sondern die Handhabung konkreter Instanzen, der Werke. Auch Zusammenfassungen, Informationen, Wissen oder Meinungen zu Werken können frei zirkulieren.

Das Urheberrecht begrenzt die Ansprüche der Rechtinhaber im Alltag der Zivilgesellschaft und im Bildungswesen. Das Urheberrecht schützt etwa den Anspruch der Individuen, urheberrechtlich geschützte Werke im Rahmen von Freundeskreis und Familie zu kopieren und weiterzugeben. Im Bibliotheksbereich kann Ausleihe nicht unterbunden werden. Die Interessen der Allgemeinheit sind allerdings in manchen Bereichen zu wenig geschützt. Krass ist vor allem die lange zeitliche Dauer des urheberrechtlichen Schutzes. So legitim es ist, die Ansprüche von Kreativen zu schützen – Generationen von Erben mit Tantiemenströmen zu versorgen, hat nichts mit der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für die Kulturproduktion zu tun.  These 5: Das Urheberrecht implementiert im öffentlichen Interesse substantielle Beschränkungen der Ansprüche von Rechteinhabern. Die öffentlichen Interessen bleiben aber untergewichtet, insbesondere bei der Dauer des urheberrechtlichen Schutzes.

Die Tatsache, dass das Urheberrecht bisweilen zu Prozessen und Polizeiaktionen führt, nährt gelegentlich den Eindruck, dass hier der Staat selbständig zugunsten von Partikularinteressen agiert. Produzierende Individuen und ganze Szenen von potentiellen Rechteinhabern können das Gesetz aber einfach ignorieren. Nach 20 Jahren Electronica Remixes hat man nicht davon gehört, dass diese Szene von einer Prozesswelle nach der andern heimgesucht wird. Die Frage nach den Akteuren und dem Charakter des Urheberrechts muss also geklärt werden. Dazu These 6: Das Urheberrecht ist ein optionales Framework, das KünstlerInnen selektiv nutzen können durch: Ignorieren, modellierte Nutzungsrechte (Creative Commons), Benützen als Drohgebärde, Abtretung, aktive Rechtsdurchsetzung. Die Kreativen sind die Player.


Ausklang: Im Getümmel der dramatischen globalen Umwälzungen, die durch die digitale Revolution mit befeuert werden, erscheint das Urheberrecht eher als Nebenschauplatz im Schatten der grossen ökonomischen, soziokulturellen und medialen Konfliktzonen. Auf diesen grossen Feldern läuft das Spiel klar zu Gunsten von ein paar Dutzend globalen Hardware-, Service- und Telekomkonzerne. Sie breiten sich in der Wertschöpfungskette zu Lasten der professionellen Content Produzenten aus.

Wer die Wertschätzung kreativer Leistungen und kultureller Wertarbeit fern von Staatstellen in sein Verständnis von Gemeinwohl einbaut, kann mit dem schweizerischen Urheberrecht als pragmatischem Instrument leben, solange keine eleganteren Alternativen sichtbar sind. Viele praktische Konflikte sind eher auf das Verhalten der Akteure oder die Modalitäten des Vollzugs zurückzuführen, weniger auf die Grundzüge der Gesetzgebung. Als Beispiele können die SUISA oder die Verhandlungen um ACTA dienen, wo es um Modalitäten des Vollzugs geht, nicht um die Grundzüge des Urheberrechts. Für die Zukunft ist es wünschenswert, dass das gesetzliche Instrumentarium zurückgefahren werden kann. Das fordert aber auch die Konsumenten heraus. Sie bereit sein müssen, für hochwertige kulturelle Arbeit so selbstverständlich zu bezahlen, wie für ein adrettes Halbleitergadget oder den Internetanschluss.

1) Zusammenfassungen der Lesegruppen-Diskussionen:
Zur historischen Entwicklung von Urheberrecht und Geistigem Eigentum
Freiheit und Urheberrecht
Einführung ins Immaterialgüterrecht
Paragrafen browsen

Public Domain Day – Call for Rohstoffe

ALLE VERFÜGBAREN KRÄFTE SIND AUFGERUFEN WERKE ZU SAMMELN. WIR SUCHEN
noch Originale, Kopien, Texte, Bilder, Sachen, Skulpturen,
Architekturen, Musikstücke, Noten, Lieder, Fotos und andere Werke von
Menschen die 1940 gestorben sind. Das Material muss in digitaler Form
vorliegen oder als Original. Abbildungen von Dritten gelten nicht. Wir
benötigen auch keine Hinweise auf mögliche Artefakte. Gesucht sind
physische oder digitale Werke, die von unseren Künstlerinnen frei
bearbeitet, kopiert oder verändert werden können. Eine Liste mit den
Toten findest du auf Wikipedia im Totenbuch.
Darunter befinden sich prominente Urheber wie Leo Trotzki, Paul Klee,
Eric Gill, Camilla Meyer, Big Nose Kate, Nathanael West, Walter Kollo,
Walter Benjamin und viele andere deren Werke vielleicht schon
vergessen sind. Am Public Domain Jam am 1.1.2011 im Cabaret Voltaire
werden diese Daten mithilfe künstlerischer Techniken gemixt, gemasht
und redesignt.

Physische Werke im Cabaret Voltaire oder Dock18/Rote Fabrik Zürich abgeben. Digitale Werke auf wuala.com hochladen

Als Belohnung erwartet dich Zugang zu 1TB Daten zur freien Benutzung
und ein Neujahrsbrunch im Cabaret Voltaire am 1.1.2011. Fragen an
dock18(at)rotefabrik.ch

Schlingerndes Flagschiff

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich weiteren Teilen des Buchs von Russ-Mohl (1) zugewandt. Diesmal geht es um den Wandel der New York Times (NYT) und die Zukunftsperspektiven der US-Presse.

Wie im letzten Beitrag diskutiert, konstatiert Russ einen mittelfristigen Trend zu einer tiefer werdenden Krise des Presse in den USA: weniger Inserate, weniger Stellen, weniger journalistische Substanz. Der Autor stimmt nun aber nicht ein Lamento an, sondern sieht auch die kreativen Potentiale, welche die Krise freisetzen kann. Als Beispiel skizziert er die Entwicklung der NYT.

Dass die NYT noch vor kurzem einen Büroturm in Manhattan hochgezogen hat, erscheint als obsoleter Verweis auf eine verflossene Goldene Ära. Das Gebäude musste verkauft werden, denn das Unternehmen befand sich jahrelang in Schieflage: Sinkende Anzeigeneinnahmen, Überschuldung, instabile Eigentumsverhältnisse. Letzteres konnte gedreht werden. Die historische Eigentümerfamilie Sulzberger erwarb wieder grosse Anteile, die Hedgefonds verschwanden von der Bildfläche. Die Zahl der Journalisten wurde etwas reduziert. Zudem trat ein mexikanischer Multimilliardär als Kreditgeber auf.

Auf einer zweiten Ebene hat die NYT neben der Printausgabe den Internetauftritt forciert. Russ nimmt sie als Beispiel „wie interaktiv, wie multimedial und auch wie transparent Qualitätsjournalismus im Internet sein kann“. Der Site zählt etwa 20 Millionen Besucher pro Monat. Da wird auch klar, warum sich die Zeitung nach einigem Hin- und Her für Gratiszugang entschiedenen hat. Die Werbeindustrie zeigte Heisshunger nach Werbeflächen in einer HiEnd Umgebung, wo zahlungskräftige Mittel- und Oberschichtangehörige erreicht werden können.

Russ stellt fest, dass diese Strategie doch eine Eigendynamik entwickelt. Auch wenn von Boulevardisierung nicht die Rede sein kann, setzt sich das gratis online Modell „unter Druck, dem Massengeschmack zu folgen“. Unter dem Strich attestiert der Autor aber der NYT, Berichterstattung auf hohem Niveau zu leisten, interaktive Formen und Selbstkritik zu fördern, den investigativen Journalismus wiederbelebt zu haben.

Der Autor hütet sich mit guten Gründen, die NYT als Beispiel hinzustellen, das nun alle nachahmen können. Die Mehrheit der paar führenden US-Zeitungen sind in den letzten Jahren in den Niederungen von Boulevard und Bedeutungslosigkeit verschwunden. So die historische Nummer zwei, die Los Angeles Times. Nicht besser sieht es mit bei den mittelgrossen und kleineren lokalen Blättern aus.

Eine vorsichtige Tonart schlägt der Text bei den Zukunftsaussichten an. Harte Kritik stecken Unternehmensleitungen ein, die sich einfach an alte Praktiken und Vorstellungen geklammert haben. Der Autor konstatiert, dass der Journalismus „als professionelle Spezies neu erfunden“ wird. Der Journalist wird zum „dynamischen Unternehmer“. Das passt nun allerdings nicht so richtig zum Modell NYT, wo JournalistInnen doch gerade im Kontext eines institutionellen Rahmens agieren – als Fachspezialisten und nicht als Unternehmer. Dass bürgernaher Freelancer Journalismus zu einem ökonomischen Modell werden könnte, wird einfach angetönt, aber nicht entwickelt.

Eine komplexer werdende Welt braucht hochwertigen Journalismus. Russ sieht ihn eher in einer Funktion als Lotse denn als Welterklärer. Das ist allerdings nicht als free lunch zu haben. Anspruchsvollen Stoff gebe es wohl auf die Dauer nur „wenn wir dafür bezahlen“.

Das Buch hat Schwächen, etwa die (bereits im letzten Beitrag erwähnte) ungeklärte Verwendung des News-Begriffs. Auch werden die medialen Entwicklungen nicht mit kulturellen Neuorientierungen in Verbindung gebracht. Der Text bringt aber viel Material, welches eine Einschätzung der medialen Dynamik in den USA erlaubt.


1) Stephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz 2009

Pressekrise in den USA

Die Frage nach Bedingungen der Herstellung einerseits und dem freien Zugang zu digitalen Wissensbeständen andererseits stellt sich auch im Sektor journalistisch aufbereiteter Inhalte. Zu beobachten sind etwa ein Niedergang des Qualitätsjournalismus hier und ein Wandel im Mediengebrauch dort; zugespitzt stellt sich Frage, ob die Tageszeitung der heutigen Form nicht ein medialer Dinosaurier ist. Die Lesegruppe – neugierig, wie die Zukunft ausschauen könnte – blickt in die USA und hat sich das Buch «Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA»* vorgenommen.

Stephan Ruß-Mohl, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano, hat die aktuelle Zeitungslandschaft der USA analysiert und fasst seine Schlüsse über Strukturwandel bei Presse und Online-Medien in den USA in diesem Buch zusammen. Das erste Kapitel «Journalismus in der Abwärtsspirale», das wir uns vorerst vorgenommen haben, handelt denn auch von den Verfallserscheinungen des amerikanischen Zeitungsjournalismus. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache und bilden einen eigentlichen Erosionsprozess ab: Es die Rede von einer ganzen Serie von Verlagsinsolvenzen, Massenentlassungen, drastisch sinkenden Auflagen, einer Leserabwanderung ins Internet.

Die Sachverhalte sind zwar nicht ganz neu, sie werden aber hier mit viel Zahlenmaterial aus zahlreichen Quellen und statistischen Angaben unterfüttert und sind von hoher Aktualität (viele Informationen und Daten in dem Buch stammen aus 2009).

Ausgedünnte Redaktionen führen in der Folge zu Kompetenzlücken, vielleicht droht eine Deprofessionalisierung, mindestens aber verändert sich das Journalistenhandwerk. Ob der Trend der rapide abnehmenden Glaubwürdigkeit der Medien – offenbar verlieren sie TV-Anbieter und Zeitungen gleichermassen – ebenfalls auf diesen redaktionellen Schwund zurückzuführen sind, bleibt offen.
Auf der Seite der Ursachen des Niedergangs wird als eines der Hauptprobleme erwähnt, dass die Internetgeneration mit der Erwartungshaltung von «Alles gratis» aufgewachsen und die Zahlungsbereitschaft für Nachrichten und journalistische Angebote im Netz derzeit gleich Null sei.

Die Diskussion in der Gruppe hat folgende Punkte speziell hervorgehoben:
– Die Zahlen aus den USA zum Konsum von Nachrichten zeigen, dass in der Mediennutzung offenbar Einbussen bei den «alten» Medien nicht von Onlineangeboten kompensiert werden.
– Den Fragen, ob der Zustand der Presse in den USA anders als in Europa ist, inwiefern er vergleichbar wäre oder was allenfalls in Europa auf uns zukommt, nähern wir uns anhand dieses Einstiegs nicht direkt an. In der Schweiz warnt ja insbesondere Kurt Imhof, Soziologe und Medienforscher, sehr deutlich vor den Folgen eines Verlustes des Qualitätsjournalismus und spricht unverhohlen von einer Unterhöhlung der Demokratie und einem drohenden Zerfall der Öffentlichkeit.
– Erwähnenswert scheint uns, dass sich die Beobachtungen von Ruß-Mohl an der Grenze zwischen Journalistik und Ökonomie bewegen: So schliessen seine Beobachtungen nicht nur den Inhalt von Zeitungen ein, sondern ebenso ihr Anzeigengeschäft oder den Verfall ihrer Börsenwerte.
– Das Buch ist ein Zwitter zwischen Wissenschaft und populärem Sachbuch ist. Das macht es zwar zu einer auch unterhaltenden Lektüre, war uns aber nicht in jedem Abschnitt behaglich. Manchmal haben wir uns gefragt, was vor dem Beginn der abgebildeten Statistik war; andere Male haben uns Definitionen gefehlt, etwa was alles genau unter «Nachrichten» fällt oder gezählt wurde.

Im Untertitel ist die Rede von einer «kreativen» Zerstörung, sie wird also nicht nur negativ beurteilt. Es müssten sich daher in den folgenden Kapiteln neue Ansätze zeigen, wie sich neue Formen etwa im Online-Journalismus ausbilden. Fortsetzung folgt.

* Stephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz, 2009.

Leistungsschutzrechte – oder neue Biotope und Reservate für bedrohte Verleger?

In der NZZ plädierte der Schaffhausener Verleger Norbert Neininger für ein neues Leistungsschutzrecht und knüpft damit an eine umstrittene Debatte zum scheinbaren Widerspruch von offenem Zugang und der Ertragssicherung von Medienverlagen in Deutschland an. Dabei schreckt er auch vor absurden Gleichstellungen von Google mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia nicht zurück, der er schnöde „Vermehrung von Marktanteilen“ unterstellt. Das Neininger-Plädoyer fordert zum Widerspruch heraus.

Wolf Ludwig, freier Medienjournalist und Vorsitzender der europäischen Nutzervertretung bei ICANN, hat einen Widerspruch geschrieben zum Neiniger Plädoyer. Sein Widerspruch ist als PDF verfügbar.
Der Artikel von Norbert Neininger ist online in der NZZ und ein Nachtrag von Rainer Stadler in der NZZ ebenfalls.