Zenit des Fernsehens

Unermüdlich pflügt sich die Lesegruppe der Digitalen Allmend durch die bundesrepublikanische Mediengeschichte. Im neuesten Kapitel geht es um Aufstieg und Niedergang des Leitmediums Fernsehen.

Die 60er und 70er Jahre sieht Werner Faulstich im Zeichen des Fernsehens und einer medialen Alternativkultur. 1963 beginnt das ZDF als zweiter nationaler Kanal zu senden. Die Sendedauer expandiert und nähert sich einem Vollprogramm. Die Durchdringung mit TV-Geräten ist nun hoch. Vor allem wird das Fernsehen zu einer wichtigen Bühne gesellschaftlicher Meinungsbildung. Der Autor fasst das mit dem Begriff des Leitmediums im Sinne einer „Meinungsführerschaft in einer grösseren schichten- oder milieuübergreifenden Öffentlichkeit“. Er meint damit nicht einfach politische Themen sondern umfassender: Kultivierung, Agenda-Setting, Meinungsbildung. Das Leitmedium verändert das Leben vieler Menschen und strukturiert es neu (1).

In der Diskussion wird die generelle kulturelle Leitfunktion kaum angezweifelt. Bei der gesellschaftspolitischen Meinungsbildung dürften aber Zeitungen und Zeitschriften gerade bei den zwanzig Prozent am meisten Interessierten das Leitmedium geblieben sein. Und das Radio dürfte hier auch eine Rolle gespielt haben.

Auf Ebene des gesellschaftlichen Mainstreams erscheint die These des Leitmediums jedoch plausibel. Der Autor zeigt nun auf, dass das kein Zustand für die Ewigkeit war. Einerseits hat sich das Fernsehen selbst ausdifferenziert. Mit einem breit angelegten Mix vom anspruchsvollen Magazin wie „Monitor“ bis zu unterschiedlichsten Unterhaltungsformaten entwickelt es sich zum konturlosen Gemischtwarenladen. Hinzu kamen immer mehr private und ausländische Sender.

Andererseits schuf die Bindung an den biederen Mainstream die Voraussetzung für eine Absetzbewegung der Jugend. Die Jugendkultur der 60er und 70er Jahre wurde „von ganz anderen Medien getragen“ – Radio, Schallplatten und Tonband. Unter dem Stichwort alternative Medienszene geht Faulstich allerdings kaum auf die riesige Vielfalt kleiner Printmedien. Bei den Tonträgern zeigt er eindrücklich, wie die alternative musikalische Jugendkultur weitgehend vorerst am Tropf von ein paar nicht eben alternativ wirkenden Konzernen hing. Erst im Lauf der Zeit gewannen unabhängigere Trägermedien und Labels an Gewicht.

Der Aufstieg des Fernsehens setzte andere Medien unter Druck. Beim Buch konstatiert der Autor einen „Niedergang“, der noch von der wachsenden Zahl an Neuerscheinungen überdeckt wurde. In den 70er Jahren deutet sich „ein allmählicher Niedergang des Mediums Zeitung als öffentlichkeitskonstitutives Forum an“. In der Diskussion wurde die Frage erörtert, wie weit auf dem Feld der öffentlichen Debatte das Fernsehen eine produktive Rolle spielen kann. Es kann durchaus eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem vergleichsweise qualitativ hochstehenden öffentlichen Fernsehen im Deutschland der letzten Jahrzehnte und dem im europäischen Vergleich überdurchschnittlichen Funktionsfähigkeit von Staat und Wirtschaft.

Faulstich sieht die Medienlandschaft im Trend einer massiven Kommerzialisierung. Die Konzentration im Zeitungswesen, die Bestseller-Kultur beim Buch und werbefinanziertes Fernsehen werden als Indizien herangezogen. Das müsste genauer angesehen werden. Möglicherweise gibt es eine seit Jahrzehnten zunehmende Bereitschaft des Mainstreams, Medienleistungen durch Werbeberieselung statt durch Kauf oder Gebühren abzugelten. Und eine Abnahme ideeller Motive zur Medienproduktion.

Anderseits waren seit je her private Medienunternehmen aus kommerziellen Motiven aktiv. Der Autor relativiert das insofern, als er auf den Hugenberg-Konzern der zwanziger Jahre verweist, der primär um eine politische Achse herum entwickelt wurde und letztendlich auch erfolgreich den Nationalsozialisten den Weg bereiten half. Faulstich sieht die modernen Grosskonzerne wie Springer primär von unternehmerischen Interessen getrieben, auch wenn sie sich jahrelang an vorderster Front in die gesellschaftspolitische Konfrontation einmischen, wie das die Springer-Presse gegen die Studentenbewegung gemacht hat.

1) Werner Faulstich. Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Fink 2012.

 

Medien im Nachkriegs-Vakuum

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich mit der Medienlandschaft unter nationalsozialistischer Herrschaft befasst. Nun geht es um die Entwicklungen der Nachkriegszeit. Werner Faulstich interpretiert sie im Kontext eines „allgemeinen Wertevakuums“ (1).

Der Autor skizziert zwei Linien, um die herum dieses Vakuum gefüllt wurde. Konsum und Bewältigung. In den Trümmern der unmittelbaren Nachkriegszeit wuchsen die Fundamente der bundesrepublikanischen Konsumgesellschaft. Plakate und Anzeigen transportierten mit vorerst wenig innovativen medialen Mittel die Werbebotschaften für Konsumgüter. Faulstich spricht von einer „Kompensation durch Konsum“, welche die Orientierungskrise milderte und Material für eine neue Alltagskultur lieferte. Über die Konsumgüter hinaus nimmt Faulstich darum auch den Aufschwung von Comics und Groschenromanen in den Blick.

Offen lässt er, Comics in Deutschland auch einen nennenswerten erwachsenen Leserkreis fanden, wie in Frankreich. Zweifellos waren aber Arztromane, Landserhefte oder Jerry Cotton Geschichten sehr beliebt.

Zusammen mit dem Aufschwung von Presse und Taschenbüchern konstatieren wir für die fünfziger Jahre eine ausgeprägte Lesekultur, auch für längere Texte. Zusammen mit dem weiterhin bedeutenden Radio und der Ausbreitung des Fernsehens schliessen wir in der Diskussion auf einen quantitativ erhebliche Ausdehnung des Medienkonsums, der möglicherweise mit der Reduktion der Arbeitszeit zusammenhängt. Es stellt sich auch die Frage, wie weit eine Aufwertung des Bildungsgedankens den Konsum beeinflusste. Das Buch geht auf die Medienrezeption wenig ein.

Den Aspekt der Vergangenheitsbewältigung dokumentiert Faulstich anhand der Fotografie. Hier wurden etwa Kriegsserien, Trümmerfotos und auch Szenen aus Konzentrationslagern dokumentiert. Teilweise zwangen die Alliierten Ladenbesitzer dazu, derartige Darstellungen im Schaufenster auszustellen, um die Bevölkerung mit den Gräueln des Nationalsozialismus zu konzentrieren.

Hinter ein Verbinden einer kulturellen Strategie wie der Bewältigung mit einzelnen Medien hat die Diskussion ein Fragezeichen gesetzt. Sicher dienten Groschenhefte eher einfach der Unterhaltung. Gerade die Landserhefte tragen aber auch ein Element der (selektiven) Bewältigung. Die Fotografie entzieht sich aber Zuordnung, da gab es ja auch die grosse Bandbreite gedruckter Fotografien und den ganzen Bereich der privaten Alltagsfotografie.

Drastisch sichtbar wird in der NS-Zeit wie in den Nachkriegsjahren, wie die politischen und gesellschaftlich Randbedingungen die konkrete Medienlandschaft modellieren. Betroffen sind weniger die längerfristigen Entwicklungstrends der Medientechnologie, wohl aber die konkreten Medien, ihre Gestalt und Ausrichtung. Die Alliierten legten für Zeitungen und Rundfunk klare Bedingungen fest. Unter anderem bestanden sie auf einer starken Dezentralisierung der elektronischen Medien, die einem Hang zu zentralistisch-autoritärer Politik entgegenwirken sollten. Die Folgen zeigen sich bis heute auf jedem zentraleuropäischen TV: In Form der ARD und den starken Länderanstalten.

1) Werner Faulstich. Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Fink 2012. Zitat S. 195

Medien im 20. Jahrhundert

Um die digitalen Medien in einem grösseren Zusammenhang zu diskutieren, pflügt sich die Lesegruppe der Digitalen Allmend durch eine Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts (1). Bereits um 1900 lässt sich eine grosse Vielfalt persönlicher und öffentlicher Medien konstatieren.

Die mediale Moderne hat sich in mehreren Schüben ausgeprägt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsteht die Massengesellschaft mit entsprechenden alltagskulturellen und medialen Formen. Ein zweiter Schub erfolgt in den zwanziger Jahren. Da formieren sich nicht nur in New York, Paris und London, sondern auch in Tokyo, Shanghai und Berlin vibrierende Formen der Populärkultur: Kinos, Sechstagerennen, Kabaretts, Boulevardblätter, Illustrierte und tausende von spezialisierten Publikationen.

Die wichtige Rolle Berlins und Deutschlands rechtfertigt durchaus einen exemplarischen Blick. Dass Werner Faulstich im Titel „Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts“ verspricht, um dann nur von Deutschland zu schreiben, geht dann aber vielleicht etwas weit.

Der Autor setzt mit der Situation Ende des 19. Jahrhunderts ein und skizziert materialreich die Medienlandschaft. Überraschend wirkt manche Gewichtung, wenn er etwa das „Ende des Theaters als Medium“ bespricht. Wie in der Diskussion der Lesegruppe dann immer klarer wird, hat das seinen Grund in Faulstichs Medienbegriff. Der zentriert sehr stark um die technisch-materielle Form. Das hat durchaus erfrischende Folgen. Konsequent blickt der Autor so auch ausführlich auf unspektakuläre Medien und rückt etwa mit Briefmarken, Spielkarten oder Kochrezepten auch die grosse Gruppe von Blattmedien umfassend ins Blickfeld.

Zu Recht identifiziert Faulstich für das Ende des 19. Jahrhunderts „erste Tendenzen des Umschwungs zu den elektrischen Medien“. Das ist im Fall des Telefons offensichtlich. Bei Film und Schallplatten kann allenfalls von ersten Anzeichen die Rede sein, zumal das Grammophon um 1900 weder elektrischen Antrieb noch elektronische Verstärkung aufwies.

Der Autor skizziert die enorme Vielfalt der Printmedien, die sich um 1900 und erneut in den zwanziger Jahren herausgebildet hat. Neben bekannteren Tageszeitungen und illustrierten Wochenzeitschriften erschienen tausende von weiteren Printmedien von Kunst bis Klassenkampf, von Wissenschaft bis Lebensreform. Hinzu kamen an Organisationen gebundene Publikationen von Berufsverbänden, Parteien oder Vereinen. Hier lässt sich durchaus die These einer weit entwickelten printbasierten Informationsgesellschaft einbringen, in der interessierte ZeitgenossInnen eher mit Informationsüberlastung als mit Informationsmangel zu kämpfen hatten.

Nun war es auch in den zwanziger Jahren nicht so, dass die neugierige städtische Mittelschicht sich hinter Klassiker und gelehrte Zeitschriften klemmte. Faulstich charakterisiert eine Medienkultur, „die von Werbekultur, Propaganda und vor allem Unterhaltungskultur in einem bislang noch nicht da gewesenen Ausmass bestimmt wurde“. Entsprechend stiegen die Ansprüche an grafische Gestaltung und Schriftsatz, was mit einer Professionalisierung dieser Berufe und einem Aufschwung der Kunstgewerbeschulen einherging. Hier stellt sich die Frage, wie weit auch ästhetische Elemente in ein Medienkonzept eingehen. Die Gestaltung von Titelbildern, Fotoseiten oder elegante Modeinserate gehören mit zur Vorstellung bestimmter Medientypen etwa in den zwanziger Jahren.

Das interessiert den Autor aber weniger. Seine Zentrierung auf einen technisch-materiellen Medienbegriff lässt kuluturelle Aspekte verblassen. Das geht weit über die Gestaltung hinaus. Faulstich macht kaum plausibel, mit welchen soziokulturellen Entwicklungen die Medientrends etwa in den zwanziger Jahren interagieren.

 

1) Werner Faulstich. Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Fink 2012. (Die ersten Kapitel besprochen am 10. Juni und 2. Juli 2013).

Navigieren im Komplexen

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich am 15. April in gebührender Distanz zum brennenden Böögg mit dem Thema Komplexität befasst. Der Text „Navigating Complexity: From cultural critique to cultural intelligence” (1) stammt aus dem Umfeld der Medienwissenschaften. Wir laden die geneigten Leserinnen dieses Beitrags ein, nicht zu verzagen: Nur ausnahmsweise navigieren wir in so dünner theoretischer Luft. Nächstes Mal geht es mit handfesten Medien weiter…

Ien Ang kritisiert einen allzu vereinfachenden Ansatz des Positivismus, mit dem sie in den 70er Jahren konfrontiert war. Der gehe davon aus, die komplexe Wirklichkeit durch ein Feststellen von Tatsachen auf einfache Gesetze zurückgeführt werden könne. Die Komplexitätstheorie habe einen grossen Fortschritt gebracht. Die entsprechenden Methoden betonen Nichtlinearität, Unvorhersagbarkeit und Selbstorganisation. Ang orientiert sich weniger an einem mathematischen als an einem ökologischen Komplexitätsbegriff, der auch die Chaostheorie umfasst – mit dem bekannten Schmetterlingseffekt.

Die Autorin möchte die Komplexitätstheorie als Leitmethodik für die Gesellschaftswissenschaften etablieren. Sie verweist auf Ansätze im Bereich der Studien von internationalen Beziehungen, wo etwa James Rosenau begonnen hat, die Betrachtung der Staaten im Sinne von innen/aussen abzulösen zugunsten eines Konzepts endloser interaktiver Polaritäten. Hier wurde in der Diskussion deutliche Kritik laut, dass die Autorin den Neuigkeitswert der Globalisierung überzeichne und ohne historische Tiefensicht agiere. Es gab eben nicht nur den Kalten Krieg und dann die Globalisierung. Die zwanziger Jahre waren voller globaler Netze und komplexer zwischenstaatlicher Verhältnisse.

Überzeugender wirkt ihre Betonung des medienwissenschaftlichen Ansatzes von Williams, der 1974 das Fernsehen als Technologie und als kulturelle Form analysierte.

Ang wendet sich gegen einen Kult der Komplexität, wie ihn postmoderne Theorien vorangetrieben haben. Die dogmatische Ablehnung von essentieller Verdichtung gehe mit einer rein beobachtenden Haltung einher, die einen handelnden Zugriff verunmögliche. In der Tat. Mit der Verabsolutierung der Feststellung, dass alles bedeutungstragende Menschenwerk einer ständigen Resemantisierung ausgesetzt ist, lässt sich nichts planen und nichts aufbauen. Mit Russell Jacoby kritisiert die Ang, der Komplexitätsdiskurs diene dazu, die Distanz des akademischen Wissens vom öffentlichen Leben zu rechtfertigen.

Die Autorin klebrige Probleme – messy problems – in direktem Zusammenhang mit Komplexität. Sie wendet sich dann der Frage nach übergrosser Komplexität zu, welche Gesellschaften in den Zusammenbruch treiben können. Sie erinnert an Rom oder die Mayas. Das ist irgendwie schon plausibel. In der Diskussion wurde eine kleine Kritik laut, dass der Begriff der Ausdifferenzierung etwas präziser wäre, als die sehr abstrakte Komplexität. Problematisch erscheint vor allem dieser hohe Grad an Abstraktion. Der Zusammenbruch einer hoch arbeitsteiligen und kulturell vielschichtigen Gesellschaft dürft kaum auf einen eindimensionalen Parameter reduzierbar sein.

Als Dritten Weg zwischen naivem Positivismus und distanzierter Postmoderne schlägt Ang vor, mit nicht simplistischen Vereinfachungen zu arbeiten und kulturelles Wissen (cultural intelligence) zu entwickeln. Das soll die Handlungsfähigkeit gegenüber klebrigen Problemen erlauben. Die Allgemeinheit der ganzen Argumentation traf in der Diskussion auf Skepsis.

Die Autorin versucht ein nach x Versuchen im 20. Jh ein weiteres Mal, naturwissenschaftliche Konzepte auf Gesellschaftswissenschaften zu transferieren. Gegenüber komplexen Ökosystemen weisen eben Gesellschaften jedoch noch eine weitere Dimension auf. Hier erscheinen Formen des Handelns, die an selbstreflexive Formen von Wissen und Kultur gebunden sind. Wer Froschteiche und Finanzkrisen mit dem gleichen Werkzeugkasten analysiert, droht im Allgemeinen stecken zu bleiben.

1) Continuum: Journal of Media and Cultural Studies – Special Issue: Navigating Complexities. Vol. 25, No. 6 (2011)

Was Infos wirklich wollen

Es gibt Texte, die sind gut leserlich und mit anschaulichem Material versehen. Trotzdem fragt man sich nach einem Dutzend Seiten, ob Autor oder Leser oder beide wirklich checken, was ausgesagt respektive verstanden werden soll. So ergeht es mir etwas mit dem Text „Information Wants to Be Shared“ von Joshua Ganz.

Dem Autor geht es um Verteilprozesse von Information, die er aus ökonomischer Perspektive analysieren möchte. Er stellt zu Recht fest, dass Information nur in dem Mass relevant und wirksam wird, wie sie verteilt wird. Der Autor nimmt die Preisbildung in den Blick. Er konstatiert im Einklang mit der allgemeinen Wahrnehmung und mit Steve Wozniak in den achtziger Jahren, dass die Verteilung von Information immer günstiger wird. Autor Ganz versucht, den daraus folgenden Wandel des Informationsmarktes und die Auswirkungen auf die Vertriebsindustrie zu skizzieren. Gelingt das?

Ein Problem: Der Informationsbegriff wird weder geklärt noch differenziert. Joshua Ganz scheint davon auszugehen, dass Informationen im Allgemeinen marktfähig seien. Das leuchtet nicht ein. Grosse Segmente von Informationen gehören persönlicher Kommunikation oder banalen betrieblichen Abläufen an. Niemand will die haben – und schon gar nicht dafür bezahlen. Die meisten Formen von Informationen flottieren einfach in der Gesellschaft herum. Potentiell marktgängig ist Information in moderner Gesellschaft allenfalls, wenn sie als Werk geformt ist. Und auch dann müssen noch verschiedene weitere Bedingungen erfüllt sein. Die Myriaden von Flickr-Fotos oder Schulband-Songs sind werkartige Bausteine der alltagskulturellen Kommunikation – von Marktgängigkeit sind die aber weit entfernt.

Dem würde der Autor wahrscheinlich nicht widersprechen. Ist es dann aber angebracht, so allgemein von Information und Markt zu reden?

Der Autor nennt es immer Information, in manchen Zusammenhängen meint er aber Werke. Im Titel spricht er aber offenbar und meint offenbar ganz allgemein Informationen. Die Lesenden haben lebhaft diskutiert, wie der Titel zu interpretieren sei. Eine Möglichkeit ist, „Information will…“ metaphorisch zu verwenden, dann aber ein ausformuliertes Konzept auszubreiten, das die Rolle sozialer Akteure erläutert oder die Forderung nach optimalem Informationsfluss untermauert. Der Autor scheint die metaphorische Formulierung jedoch ziemlich wörtlich zu nehmen. Wenn Information wirklich „will“, wird sie zum handelnden Akteur hoch stilisiert. Eine eher abenteuerliche Vorstellung. Vermutlich will Information gar nichts. Und ob sie wirklich geteilt werden kann, wäre zu diskutieren. Sicher kann sie nicht so geteilt werden, wie der heilige Martin seinen Mantel teilte, um die Hälfte einem Bettler zu geben.

Joshua Ganz vertritt die These, dass die KonsumentInnen eigentlich immer schon nur das Medium bezahlt hätten, nicht die Information. Etwas plausibler erscheint die Vermutung, dass der Käufer eines Krimis Taschenbuchform für einen Verbund von Medium und Content gezahlt hat. Wobei heute wie in den vergangenen Jahrhunderten immer die Medienhersteller den Löwenanteil der Erträge abschöpft haben – den Contentproduzenten blieben und bleiben Peanuts.

Mit seiner Behauptung, dass im Prinzip nur das Medium marktfähig ist, stützt der Autor einen Diskurs, der die wirtschaftlichen Anspruche der Inhaltsproduktion wegdefiniert und nur die technischen Infrastrukturen und Services wirklich abgelten will. Die ICT-Branche dürfte kaum widersprechen. Sie setzte 2012 rund 3‘000 Milliarden Franken um. Damit sind wir bei realer Ökonomie angelangt. Bei Geldflüssen, Branchen, Interessen und Verteilkämpfen. Diese Aspekte bleiben ausgeblendet, was dem Text eine gewisse Abgehobenheit verleiht.

Wir sind gespannt, wie es weitergeht und hoffen, dass der Text in der nächsten Folge zum Kontrast eine wohlmeinendere Besprechung erhält.

 

Joshua Ganz: Information Wants to Be Shared. Harvard Business Review Press, Boston, Masschusetts. Blog dazu.

Neue Einsamkeit

Nicht einfach Begeisterung hat der erste Teil von Sherry Turkles Buch „Verloren unter 100 Freunden“ ausgelöst. Wie sieht es mit dem zweiten Teil aus, der sich mit sozialen Netzwerken beschäftigt?

Die Lesgegruppe hat die Anregung aus dem Kommentar zu letzten Blogbeitrag aufgenommen und sich mehr en Detail mit dem Text auseinandergesetzt. Wir haben uns bemüht anhand einiger konkreten Textstellen die letztes Mal geäussert Hauptkritik zu verifizieren: Turkle äussere nur summarische Hypothesen, verstreut in einer Masse von anekdotischen Schilderungen.

Sehen wir uns das Konzept es „Lebensmix“ an. Dass die Wissenschaftlerin das nicht selber erfindet, sondern aus der Schilderung des Probanden Pete aufgreift, ist durchaus produktiv. Allerdings bleibt eine Reflexion aus, der Begriff wird beschreibend angereichert.

Mobile Kommunikation ist konstitutiv für die Idee des Lebensmix. Sie ermöglicht das Annehmen einer virtuellen Identität „im Vorübergehen“. Etwa auf dem Spielplatz. „Viele Erwachsene teilen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kindern und mobilen Geräten auf.“ Das hilft „mit der Anspannung des täglichen Lebens fertig zu werden. Heute fragen wir „nicht mehr nach der Befriedigung im Leben, sondern nach der Befriedigung im Lebensmix. Wir sind vom Multitasking zum Multileben übergegangen.“ (Seiten 275, 276).

Turkle zielt auf die offensichtliche Möglichkeit, dank Medien aus dem physisch unmittelbaren Kontext von Kommunikation herauszutreten. Neu ist sicher die Mobilisierung dieser Möglichkeit. Der Grundvorgang ist aber alles andere als neu. Es ist ja gerade ein zentrales Charakteristikum von Medien, die Unmittelbarkeit von Kommunikation zu überschreiten. Waren Rollenwechsel wirklich immer „von einer Veränderung der Umgebung abhängig“? Auch Bibelstudenten des Mittelalters, die Briefeschreibenden der Romantik oder die im letzten Jahrhundert notorischen Teenie-Telefonate auf dem Familienanschluss nahmen Rollenwechsel vor.

Der medientechnische Drall der „Lebensmix“ Vorstellung erscheint problematisch. Turkle impliziert, dass der Mediengebrauch die Komponenten des Mixes erzeugt. Das wirkt wenig plausibel. Identitäten sind und waren heterogen, das wird ja in der Postmoderne auch hinreichend reflektiert. Die Heterogenität bezieht sich aber auf die verschiedenen Rollen und Vorstellungen, welche eine konkrete Person integriert. Das auf die Modi Handy-On und Handy-Off zu reduzieren, erscheint etwas schlicht.

Schliesslich kommt Turkle mit der Abrenzung von virtueller und realer Welt nicht wirklich klar. Ein grosser Teil der über neueste Technologie abgewickelten Kommunikation dient einfach der Pflege lebensweltlicher Beziehungen. Das ist kein bischen virtueller als ein Telefonat mit einer Tante in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch wenn ein Smartphone im Spiel ist: Der Virtualitätsgrad von Telefonieren, Chatten, Profilpflege oder Avatarinteraktion ist doch sehr verschieden und lässt sich überhaupt nicht über einen Kamm scheren.

Kurz: Die Hypothese eines mangelnden Tiefgangs verflüchtigt sich im zweiten Teil des Buches nicht. Dass Turkle durchaus eine ganze Menge von interessanten Hypothesen einstreut, dokumentieren wir im Anhang mit einer Sammlung aus dem Kapitel „Immer online“.

Generell wurden die diskutierten Kapitel des Buches als deutlich interessanter und relevanter bewertet, als der Teil über die Roboter. Es lohnt sich durchaus, einige Kapitel zu lesen. Die anekdotischen Schilderungen sind hier noch plastischer als bei den Roboterversuche, weil einzelne Figuren ausführlich geschildert werden.

Ziemlich viel Verwunderung löst die ununterbrochene Verwendung von „we“ durch die Autorin aus. Die Nutzer einer bestimmten Handymarke? Oder der gebildete Mittelstand der USA? Ganz bestimmt nicht mit gemeint sein können Obdachlose, Feldarbeiter, Schwerkranke und ein paar Milliarden weitere Erdenbewohner. Abgesehen von Ausgrenzung und mangelnder Genaueigkeit: Wenn „wir“ doch so sind, warum braucht es dann hunderte von Seiten Schilderungen „unseres“ Umgangs mit Elektrorobben und Telefonini?

Das führt zur Frage, was das für ein Text ist. Ratgeberliteratur für gehobene Mittelständler, die selber ganz instrumentell neue Medien nutzen, bei ihren Teenies aber Suchttendenzen fürchten? Trostliteratur für die gleiche Klientel? Verfolgt Turkle literarische Ziele mit ihren durchaus packenden Figurenschilderungen? Ein überlang geratener Magazin-Essay?

*  *  *  *  *

ANHANG: Hypothesensammlung aus dem Kapitel 8. “Immer online”

  •  Neue Technologien des Informationsaustauschs werden „auch für zwischenmenschliche Beziehungen genutzt“ /271/
  •  Menschen arbeiten lebenslänglich an ihrer Identität – „mit den Materialien, die wir gerade zur Hand haben“ … „Die sozialen Welten im Internet haben uns von Anfang an neues Material verschafft.“ /272/
  • Früher waren Rollenwechsel „von einer Veränderung der Umgebung abhängig“ – heute können sie in beliebiger Umgebung stattfinden /273/.
  • Es gibt Menschen, die sich „in ihren online-Identitäten eher wie sich selbst fühlen als in der physischen Realität“ /273/.
  • In Aufsichtssituationen: „Viele Erwachsene teilen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kindern und mobilen Geräten auf.“ /275/.
  • Heute fragen wir „nicht mehr nach der Befriedigung im Leben, sondern nach der Befriedigung im Lebensmix. Wir sind vom Multitasking zum Multileben übergegangen.“ Das Konzept des Lebensmix übernimmt sie direkt vom Probanden Pete /275/.
  • Mobile Kommunikation ist konstitutiv für die Idee des Lebensmix. Sie ermöglicht das Annehmen einer virtuellen Identität „im Vorübergehen“. Das hilft „mit der Anspannung des täglichen Lebens fertig zu werden /276/.
  • Stufenweise Aufwertung, basierend auf emotionalen Bedürfnissen der Benutzer: Nützlicher Ersatz zu spärlicher Kommunikation > Vorzüge ständiger Verbindungsaufnahme > „Leben auf Facebook sei besser als alles andere“ /276/.
  • Das schnelle Pendeln im Lebensmix „verfestigt sich zu einem Gefühl ständiger Teilnahme“ /277/.
  • Neue Medien untergraben die Strukturierung des Lebens durch Rituale (wobei Menschen „geschickt“ beim Einrichten von Ritualen sind) /278/.
  • Multitasking wurde von einem Fluch zu einer Tugend umgewertet. Untersuchungen zeigen, dass Leistungen limitiert sind, der Körper aber ein Hoch erlebt. „Wir haben uns in das verliebt, was die Technologie uns leicht gemacht hat, unser Körper spielte mit.“ /280/.

Robo Sentimentalitäten

Sherry Turkle beschäftigt sich am MIT schon lange mit dem Umfang von Menschen mit Informationstechnologie. Ihr jüngstes Buch „Verloren unter 100 Freunden“ nimmt zurecht einen wichtigen Platz in der aktuellen Diskussion ein. Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich den ersten Teil angesehen, der sich mit Spiel- und Pflegerobotern beschäftigt.

Auf den ersten Blick ist nicht klar, warum die Autorin dem Umgang mit Robotern zweihundert Seiten einräumt. Die Bedeutung von Robotern im Alltagsleben ist doch erheblich geringer geblieben, als das vor einigen Jahrzehnten vermutet werden konnte. Turkle forscht nun aber seit den 90er Jahren auf diesem Gebiet. Und es ist schon einleuchtend, nicht nur vom Bildschirm dargestellte und dann virtuell im Kopf konstruierte Welten anzusehen. Spiel- und Pflegeroboter haben das Potential, in der dreidimensionalen Lebenswelt zu erscheinen und als Surrogat für leibliche Menschen (und Tiere) zu dienen.

Diese Ersatzfunktion ist ein erstes grosses Thema, dass sich durch den Text zieht. Turkle streut Dutzende von kurzen Beschreibungen von Experimenten und Gesprächen ein, in denen direkt die Haltung der Probanden zum Ausdruck kommt. Über sehr persönliche Dinge „mit einem Computer zu sprechen, würde mir mehr behagen“, als mit Menschen, sagt einer von ihnen. Ein anderer wünscht einen Haushaltroboter, der „meine Wohnung in Schuss hält und weiss, wie er mich pflegen muss, wenn ich krank bin“. Er soll auch die Dokumente für die nächsten Geschäftstermine bereitstellen können.

Grossen Raum nehmen Schilderungen von Kindern und Jugendlichen ein, die mit Tamagotchis und tierförmigen Roboterspielzeugen hantieren. Zu den stärksten Aspekten des Buchs gehören die entsprechenden Schilderungen, in denen eine Ambivalenz sichtbar wird. Manche Kinder neigen dazu, die Roboter als lebende Haustiere zu behandeln und emotionale Bindungen zu entwickeln. Gleichzeitig wird auch diffus reflektiert, dass die Maschinen doch nicht wirklich lebendig sind. Ein paar Dutzend Seiten dieser faktennahen Materials durchzulesen, erscheint lohnend.

Damit hat es sich dann aber. Turkle bleibt uns jede Art von erklärenden Hypothesen und wissenschaftlichen Ansätzen schuldig. Über die zweihundert Seiten steht eine zentrale Frage über dem Material: Wie ist die menschliche Disposition zu deuten, elektrische betriebenen Kleinmaschinen eine Rolle als existentielle Partner einzuräumen?

Natürlich weiss die in Psychologie ausgebildete und philosophische bewanderte Autorin, dass diese Frage in Teufels Küche führt. In der Diskussion der Lesegruppe wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur der Umgang auch mit Robotern, Haustieren und konventionellen Spielzeugen, sondern auch mit Totems, Haustieren, Sportwagen und iPhones erklärungsbedürftig ist. Im Spannungsfeld zwischen Kunst, Billigtrost und Wahn scheint es eine menschliche Disposition zu geben, materielle Dinge mit sinnhaften bis pantheistischen Bedeutungen aufzuladen.

Dass Turkle das im Hintergrund schon reflektiert, uns aber nichts Greifbares dazu sagt, ist eine grosse Schwäche des Buches. Auch eine Einbettung in den kulturellen Kontext der USA fehlt. Noch gravierender erscheint, dass Turkle die Berichte nicht wirklich auswertet und gewichtet. In den Überschriften werden Stichworte wie „Verschmelzung“ gebracht aber im Text nicht explizit vertieft. Es fehlt also auch an materialnaher Theorie.

Dass Turkle uns zur kritischen Reflexion einlädt und faktenreiches Material anbietet, ist erfreulich. Dass sie in einem populärwissenschaftlichen Buch keinen Klartext spricht, ist bedauerlich. Als LeserInnen möchten wir weder durch Feinanalyse des Textes die Positionen der Autorin herausdestillieren, noch das Rohmaterial selber wissenschaftlich auswerten.

Sherry Turkle: Verloren unter 100 Freunden. Riemann. 2012. Die englische version ist als epub greifbar.

Geistlose Signale

Sind Medien einfach technische Informationskanäle? Lässt sich eine Medientheorie um informationstechnische Konzepte wie Signal/Rauschen, Turingmaschine oder Entropie herum bauen? Tendenziell mit Ja dürfte Friedrich Kittler diese Fragen beantworten. Mit ihm hat sich die Lesegruppe der Digitalen Allmend beschäftigt, anhand eines Textes von Dieter Mersch (1).

Wer die Bühne akademischer Publikationen mit einem Titel “Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften” betrat, schlug 1980 bestimmt einen Pflock ein. Kittler durfte sich über die Folgen nicht wundern: Er wird als Vertreter eines prononcierten Medienmaterialismus wahrgenommen.

Nicht Botschaften zählen – sondern Schaltungen. Mit dieser Aussage treibt Kittler seine Position über diejenige von McLuhan hinaus. Bei letzterem war das Medium (auch) die Botschaft. Bei Kittler verschwindet die Botschaft nun überhaupt aus dem Blickfeld. Vom Prozessor bis zum gesellschaftlichen Kommunikationsprozess – alles nur ein Wimmeln von Signalen, ein Klappern von Bits.

Dieser zugespitzte Medienmaterialismus mag vielleicht etwas exotisch erscheinen. In der Lesegruppe schwappt aber doch die Diskussion hoch, ob nicht auch wissenschaftlichen Megaprojekt-Ideen wie Blue Brain oder FuturICT eine vergleichbare monolithische Sicht zugrunde liegt, die nicht zwischen den Layern technische Informationsverarbeitung und kulturelle Bedeutungsproduktion unterscheidet.

Die Unterscheidung dieser Ebenen ist auch dann relevant, wenn immerwährende Geister oder Götter im Erklärungsmodell nicht vorkommen. Dass Kittler als Literaturwissenschafter einer aufgeblähten Stilisierung eines menschlichen (oder göttlichen) Geistes temperamentvoll entgegentritt, ist durchaus produktiv. Dieses aus dem 19. Jh stammende Konzept herrschte aber um 1980 herum keineswegs mehr erdrückend vor. Kittlers Stossrichtung muss wohl auch tiefer angesetzt werden, als rechte technokratische Kulturkritik an den Werten der Bundesrepublik und des Westens überhaupt.

Der Begriff „rechts“ ist hier einfach als Verortung zu lesen. Einmal im Sinn der Philosophiegeschichte, wo Kittler in die Einflusssphäre von Heideggers platziert werden kann. Auch durch das Faszinosum militärischer Gewalt, die sich in seinem Werk unübersehbar artikuliert.

Die Diskussion einiger Grundzüge – bei Mersch und in der Lesegruppe – soll nicht den Eindrück aufkommen lassen, Kittler habe sich vor allem in Form abstrakter Allgemeinplätze geäussert. Er hat vielmehr weitläufig Studien vorgelegt, die sich von Pink Floyd über Aufschreibsysteme um 1800 und 1900, Kino und Grammophon bis zu Prozessoren und grafischen Bedienoberflächen erstrecken.

Viel ausführlicher als Mersch und trotzdem gut lesbar behandelt Geoffrey Winthrop-Young den streitbaren Autor in „Friedrich Kittler zur Einführung“.

1) Dieter Mersch. Medientheorien zur Einführung. Junius. Hamburg 2006.

Kultur als Code

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend setzt ihren Bummel durch die Medientheorien des 20. Jahrhunderts fort und beschäftigt sich mit Vilém Flusser (1920-1991). Dieser hinterlässt ein vielgestaltiges Werk, das eher untergründig wirksam wurde.

Flusser positioniert sich in einem kulturellen Megatrend nach dem 2. Weltkrieg. Diese Strömung rückt technische und formale Aspekte von Kommunikation und Kultur ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auf dieses Feld gehören Kybernetik, Semiotik und Strukturalismus.

Zu den methodischen Fundamenten gehört die Übertragung technischer Kommunikationskonzepte auf das gesellschaftliche Leben. Eine zentrale Bedeutung nimmt dabei der Code ein. Im Code überlappen sich die Welt des Sinns und die Welt der Übertragung. Statt kodifizierte Kommunikation im gesellschaftlichen Kontext zu analysieren, wird von den Kommunikationstheoretikern die Gesellschaft vom Code her interpretiert.

Das lässt sich durchaus auch von Flusser sagen. Er fasst Kultur als Code. In seiner Skizze von Flussers Denken arbeitet Dieter Mersch (1) drei Schwerpunkte heraus.

In einer Kommunikologie scheidet Flusser den kulturellen Code in zwei Momente. Im Diskurs fasst er das dauerhafte strukturelle Netz der Codes, die Infrastruktur der Kommunikation. Als dynamisches und kreatives Moment sieht er den Dialog. Einmal mehr scheint hier die seit Platon diskutierte Spannung zwischen Schrift und Rede auf. Flusser sieht den Code als zweite Wirklichkeit, die für den Menschen zur ersten Wirklichkeit wird. Flusser fasst allerdings den Begriff des Codes weiter als Schrift. Der Code bestimmt die Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und zu handeln: Er ist Sinn und Kerker gleichzeitig.

Mit seiner These des Informationszeitalters etabliert Flusser eine Geschichtsphilosophie. Es folgen aufeinander die Perioden von Bild, Schrift und Technobild. Bilder sind statisch und flächig. Die Schriftkultur wird mit Erzählung, Drama und Kausalität in Verbindung gebracht und von Flusser durchaus negativ für die Herausbildung der westlichen linear denkenden Kultur in Verbindung gebracht.

Mit dem Konzept der Komputationen verweist Flusser auf das Potential von TV und Computern, frei gestaltbare Techno-Bilder zu generieren. Das Denken sei da nicht mehr buchstäblich, sondern numerisch. Das lineare Lesen würde abgelöst durch ein Verfolgen von Verweisen. Ganz allgemein erwartet Flusser, dass aus Modellen erzeugte visuelle Konstrukte eine neuartige und wichtige Rolle spielen würden.

Die Beschäftigung mit Flusser hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen entfaltet er produktive Momente eines codebasierten Ansatzes, wirft kreative Gedanken in die Diskussion und bringt relevante Fragestellung auf. Aber sein Diskurs bleibt inkonsistent, erratisch und faktenfern, sodass er gar nicht verifizierbar oder widerlegbar ist. Das ist die Freiheit der (Medien)Philosophen: in der Transitzone zur religionsförmigen Weltanschauung stehen keine Schranken.

1) Dieter Mersch. Medientheorien zur Einführung. Junius. Hamburg 2006.

Medien ohne Aura

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend ist am 12. Dezember im 20. Jahrhundert angelangt. Zur Diskussion standen marxistische Ansätze der Medientheorie aus der Zwischenkriegszeit. Mersch (1) weist darauf hin, dass im späten 19. Jh das Aufkommen der Massenpresse und die Diskussion um die Massengesellschaft völlig neue Voraussetzungen für die Debatte um die Medien geschaffen haben.

Der Literat und Filmkritiker Béla Balász rückt allerdings nicht die gedruckte Massenpresse, sondern die Fotografie und den aufkommenden Film ins Zentrum des Interesses. Mit Bild versus Wort und Text stellt er zwei Mediensysteme einander gegenüber. Er kritisiert vehement einen Primat der Sprache und verweist auf die Mächtigkeit des bildhaften Ausdrückens und Zeigens. Balász vermittelt die Vorstellung einer universellen Bildsprache.

Walter Benjamin positioniert seine Medienbetrachtungen im Kontext des marxistischen Unterbau/Überbau Schemas. Das heisst nun aber nicht, dass Elemente wie Macht, Besitz, Entfremdung oder Ideologiekritik als Instrumentarium dienen würden. Vielmehr rück Benjamin die Technik ins Zentrum und bindet auch seinen Aura-Begriff daran. Aura wird einmal mit Singularität und Echtheit assoziiert – Aura kann darum den technisch reproduzierten Objekten nicht mehr anhaften. Aura wird aber an verschiedenen Stellen von Benjamins Werk mit weiteren Bedeutungen angereichert, etwa als „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. In diesem Sinn gefasst sind wären aureatische Momente eigentlich auch für Betrachter multimedialer Produkte vorstellbar.

Mersch bezeichnet Benjamins Aura-Begriff wohlwollend als „schillernd“. In der Leserunde schwappte eine interessante Diskussion hoch, ob da überhaupt eine Theorie oder auch nur ein analytisches Konzept vorliegt. Die eine Seite betont die Fruchtbarkeit von Benjamins Ansätzen, die andere sieht kein Gerüst eines konsistenten begrifflichen Systems, was als Theorie bezeichnet werden könnte.

Neben der Aura ist der Begriff der Montage zentral bei Benjamin. Die Montage, die Zersplitterung als Produktionsbedingung, bildet das mediale Kernelement des Films. Benjamin konstatiert beim Film auch einen neuen Illusionsmechanismus. Der produzierende Mechanismus bleibt verhüllt, es gibt keinen Bühnenrand, der die Grenze zu einer andern Sphäre markiert.

Benjamin folgert nun nicht, dass diese neuen Illusionsmechanismen in eine dauerhafte Verblendung der Massen durch die kapitalistische Kulturindustrie führen würden. Vielmehr diagnostiziert er, dass die Abkehr vom aureatischen Kunstwerk das Wahrnehmungsverhalten umwälzt und politisches Emanzipationspotential freisetzt.

Das Thema der Verblendung wurde durch Adorno und Horkheimer im Konzept der Kulturindustrie ausgearbeitet. Die technischen Medien sind das Distributionsnetz und Verkaufsinfrastruktur von kulturellen Waren, welche an Stelle einer zerfallenden politischen Öffentlichkeit tritt.

Die entsprechende Manipulationsthese hatte in den 70er Jahren grossen Anhang. Enzensberger kritisierte die Absolutheit der These. Es ist nicht möglich, aus einen Zentrum heraus widerspruchsfreie Ideologie zu produzieren. Kommunikation bringt immer Widerspruchsmöglichkeiten mit sich. Das aktuelle Mediensystem liesse sich auch ganz anders nutzen. Baudrillard hat Enzensberger kritisiert. Er gehe von einem naiven Kommunikationsmodell aus. In der Tat nahm dann Enzensberger Abstand von seinem Konzept eines formbaren Medienbaukastens.

1) Dieter Mersch. Medientheorien zur Einführung. Junius. Hamburg 2006.