Social Web – ein Anspruch

Als letztem Schwerpunkt des Themas „Digitale Medien“ haben wir uns in der Lesegruppe zwei konkreten Medien zugewandt – Microblogs und Sozialen Online Netzwerken (OSN). Als Grundlage dient das Buch „Social Web“ aus der wissenschaftlichen Nachwuchsszene (1).

Die AutorInnen bieten reiches Material und liefern zu jedem Medium ein gut strukturiertes Kapitel. Twitter entstand 2006 aus einem firmeninternen Versuch. Im Buch werden diese Formen als Microblogging gefasst, mit dem ein abonnierbarer Strom von Kurznachrichten gespiesen wird. Als Inhaltstypen werden genannt: Nachrichten unter Privatpersonen, Breaking News, politische Mobilisierung, Fachinformation, Kundenkommunikation wie das erfolgreiche Dell Outlet. Dass die bekannte Notlandung auf dem Hudson zuerst über Twitter verbreitet wurde, wirkt eher anekdotisch als beweiskräftig für die Relevanz dieses Kanals.

Leider fehlt hier wie andernorts eine distanzierte Einordnung und kritische Wertung. Gerade bei Twitter ist ein Kernelement diskutabel, wenn der Anspruch eines öffentlichen Mediums erhoben wird: die hierarchische Struktur und das Konzept der Follower, der Gefolgschaft. Das erinnert etwas an sektenförmige Muster – weniger an kritische Medienrezeption. Problematisch ist natürlich nicht der Grossteil der pragmatischen Nutzungen, sondern die kulturelle Akzeptanz des Gefolgschaftskonzepts. Sie entspricht durchaus einem Aspekt des Zeitgeistes, der sich von Institutionen ab und Führungsfiguren zuwendet.

Die Verbreitung und Relevanz von Twitter ist beschränkt geblieben. Die AutorInnen zitieren eine Umfrage aus Deutschland. Intensive Twitternutzung findet sich bei jüngeren, akademisch gebildeten Männern, die in Städten leben und der IT nahestehen. Das entspricht in etwa den Erfahrungen der Diskussionsteilnehmer. Zur Möglichkeit, Mircroblogs in der betrieblichen Kommunikation einzusetzen, wird in der Diskussion die Effizienzfrage aufgeworfen: Bringt die Vermehrung der Aufmerksamkeit heischenden Kanäle wirklich etwas?

Soziale Netzwerke respektive Online Social Networks (OSNs) haben sich in den letzten Jahren massiv verbreitet, allerdings nicht im ersten Anlauf, wie die AutorInnen feststellen. Bereits 1997 kam der Dienst Sixdegrees auf den Markt, ohne auf relevantes Echo zu stossen.

Die AutorInnen referieren das „Small World“ Konzept aus den 1960er Jahren, das auf die Feststellung hinausläuft, dass alle mit allen über maximal sechs Knoten verbunden sind. Wenn auch mit etwas Vorsicht präsentieren sie OSNs als Realisationsmöglichkeit für globales Beziehungspotential. Fragwürdig ist dieser Hang zur Stilisierung, wenn OSNs als wichtiges Akkumulationsinstrument für „soziales Kapital“ (Bourdieu) präsentiert werden. Wohl eher trifft das Gegenteil zu: Je relevanter die Gelegenheiten sind, bei denen Menschen ihr soziales Kapital mobilisieren, desto irrelevanter ist die Zahl der Facebook-Freunde.

Kein Zweifel: OSNs schaffen auch soziale Beziehungen. Was sich auf OSNs abspielt und repräsentiert, ist aber nur ein sehr limitierter Teile des sozialen Ganzen. Dieses Verhältnis zwischen Teil und Ganzem würden wir in einer akademischen Publikation gern diskutiert sehen. Ebenso das entsprechende illusionäre Potential, das einen Teil der Nutzer verleiten mag, den Gehalt der auf einem technischen System repräsentierten Beziehungen zu überschätzen.

Die meisten NutzerInnen der OSNs machen sich im Alltag wohl kaum allzu viele Illusionen. Interessant wäre es zu sehen, welche Nutzungsmuster in welchen Schichten verbreitet sind. Attraktiv dürften verschiedene Elemente sein: Die Directory-Struktur garantiert Individuen und Organisationen ein dauerhafte, auffindbare Präsenz: Facebook als Telefonbuch 2.0. Neu ist nun aber, dass sich an diese Directory-Präsenz vielfältige mediale Formen anhängen lassen, die von Präsentationen bis zu Kontaktaufnahme gehen. OSNs sind ein hybrides Kommunikationsmittel, das Elemente von Directory, Kontaktbörse, personaler Kommunikation und Massenmedium zusammenfügt.

In der Diskussion sind keine Kontroversen hochgeschwappt. Der Social Network Hype der letzten Jahre ist abgeklungen. Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang sich OSNs dauerhaft in die Alltagskulturverwurzeln. Die Directorystruktur, die NutzerInnen ohne grossen Aufwand eine dauerhafte Präsenz ermöglicht, dürfte OSNs mehr Zukunftsfestigkeit verleihen, als anderen Erscheinungen. Zu hoffen ist, dass OSNs zu von einer Plattform zu einem Protokoll werden. Statt auf der Infrastruktur eines Grosskonzerns zu kleben, könnten kleinere Netze und Einzelinstanzen als kompatible Module miteinander interagieren.

1) Anja Ebersbach, Markus Glaser, Richard Heigl: Social Web. 2. überarbeitete Auflage. 2011, 316 Seiten ISBN 978-3-8252-3065-4. Das Buch bietet eine faktenreiche Übersicht.

Unter Kontrolle?

Inmitten des spektakulären Aufschwungs, den das Internet nach 1995 nahm, hat Andrew Shapiro die Möglichkeiten der neuen Technologien ausgelotet. Mit der These einer „control revolution“ betont er den Spielraum für eine Ermächtigung der Individuen. Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat den Text am 14.3. diskutiert.

Shapiros Statement ist von den Umständen Ende 90er Jahre geprägt. Er profitiert davon, dass die Wellen von medialen Moden noch nicht im Jahrestakt über den Globus schwappen. Weil er sich auf grössere Trends konzentriert, altert sein Buch erheblich besser als manche jüngere Texte zu Blogs oder Second Life, die nach wenigen Jahren bereits ziemlich antiquiert wirken.

Shapiro beginnt mit einer Episode aus der Schlussphase der Sowjetunion, wo das Regime die Faxverbindung von einem Freund in Moskau zum amerikanischen Autor einfach kappen konnte. Einen e-Mail Nachrichtenfluss hätten die Behörden nicht stoppen können. „Wahrscheinlich“ nicht, präzisiert der Autor, der sich immer wieder vor groben Vereinfachungen hütet. An diesem Punkt setzt eine Diskussion ein, wie weit eben auch das Internet von Machthabern nicht einfach nur weggeschaltet, sondern auch selektiv überwacht und beschränkt werden kann, wie etwa in China. Eher einfach ist das beim grenzüberschreitenden Verkehr und bei einer geringen Zahl von Providern möglich.

Etwas unbeholfen wirken die kurzen Äusserungen zum politischen Charakter von Technologie, welche durch Randbedingungen in die eine oder andere Richtung entfaltet werden könne. Shapiro sieht das Netz als „defined mostly by code“. Darum diskutiert er Eigenschaften wie Interaktivität oder Interoperabilität hauptsächlich auf technischer Ebene, als Codeeigenschaften eben. Damit verpasst Shapiro einen zentralen Aspekt der digitalen Infrastruktur: Diese ist extrem plastisch und definiert keine medialen Kanäle. Die konkreten Medien werden auf einer sozialen Ebene konstruiert. Blogs, Second Live, Twitter, Facebook sind mediale Formen, die auf den immer gleichen Technologien beruhen. Die Ende 90er Jahre angesagte Gleichsetzung von technischer Kontrolle (über den Code, das Betriebssystem) mit Kontrolle über seine Lebensumstände ist verblasst.

Der Autor selber präzisiert den Aspekt der „Bändigung der Maschine“ mit dem Aufkommen grafischer Userinterfaces. So erschien der MacIntosh gegenüber den kalten und verwirrenden Kommandozeilen-Betriebssystem als „menschlich, warm und liebenswert“. Er bringt das Konzept einer direkten Manipulation von Gegenständen auf dem grafischen Interface als Beweis für Kontrollgewinn. Da wäre zu unterscheiden. Wenn der User arbeitend oder spielend grafische Objekte manipuliert, kontrolliert er Elemente auf einem von Dritten inszenierten Spielplatz. Den Spielplatz kontrolliert er nicht.

Seiner Zeit voraus war Shapiro mit der These, dass die Postulierung eines Cyberpace als eigenständiger Sphäre wenig realitätsnah und sinnvoll ist. Symbolische Interaktionen auf dem Internet seien nicht entkoppelt von Auswirkungen auf reale Menschen und ihre Beziehungen.

Kontrollgewinn sieht Shapiro im Bereich von Medien und Kommunikation. Er bringt das Beispiel einer Bulletin-Board Kampagne, welche das Time Magazine zum Rückzug falscher Behauptungen über die Pornolastigkeit des Internets gezwungen hat. Das Internet senkt massive die ökonomischen Eintrittsschwellen für „digitale Autoren“. Shapiro hält sich zu euphorischen Position Distanz, sieht aber durchaus online Publizistik als Gegengewicht zu den stark konzentrierten Massenmedien: Individuen würden „more control over the flow of information“ ausüben.

Ein zentrales Konzept ist für den Autor die Tendenz zum Verschwinden von Intermediären. Darunter fällt bei der Meinungsbildung ein Glaubwürdigkeitsverlust von Institutionen wie Medien, Unis oder Behörden. Vorsichtig tönt Shapiro die Möglichkeit von Dezentralisierung und elektronischer Demokratie an. In der Diskussion konstatieren wir allerdings, dass eine Tendenz zu Dezentralisierung und politischer Ermächtigung der BürgerInnen nach fünfzehn Jahren Web in den entwickelten Ländern kaum festgestellt werden kann. Im Gegenteil: In Europa wurden in der Zwischenzeit permanent Kompetenzen hin zu einem für die Zivilgesellschaft wenig kontrollierbaren Zentrum verlagert.

Der Autor greift grundlegende Fragen in einer Weise auf, die auch zehn Jahre nach der Publikation noch interessant ist. Wie weit das Hantieren mit digital unterlegten Medien und Kommunikationsmitteln auch mit einer Ermächtigung der Individuen gleichzusetzen ist, bleibt weiter zu diskutieren. Genauso wie der Begriff der Kontrolle, der in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches bezeichnen kann.

An einer Stelle vergleicht der Autor die Ermächtigung durch die vernetzten Rechner mit der Ermächtigung durch das Auto. Das ist für den amerikanischen Kontext nicht ganz unwichtig. Gerade in der kulturellen Tradition der USA ist Kontrolle mit zwiespältigen Elementen Verknüpft. Es gibt nicht nur eine urban adrette Lesart von Ermächtigung. Wir sehen ja auch eine Gun, Car und Einfamilienhaus Version, die etwa mit der Tea Party Bewegung auf dem Web erfolgreich ihre Vorstellungen von Kontrollgewinn propagiert.

Andrew L. Shapiro. The control revolution : how the Internet is putting individuals in charge and changing the world we know. New York : PublicAffairs, 1999.

Lektüren zur Medienentwicklung

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich mit zwei weiteren Texten zu Aspekten des medialen Strukturwandels beschäftigt:

Dünne Verteidigung der Medien
Wenn Pietro Supino, Verleger der Tamedia AG und Vizepräsident des Verbands Schweizer Presse, sich in einem Artikel zur Qualität der Presse äusssert (1), braucht man sich nicht weiter zu wundern, wenn er sie verteidigt – etwa gegen den Bericht der Forschergruppe um Kurt Imhof, den die Lesegruppe bereits besprochen hat.

Seine Hauptargumente sind einerseits die prinzipielle Nichtexistenz von überzeitlichen Qualitätsmerkmalen (die also auch nicht einzufordern seien) und andererseits ein veränderter Mediengebrauch, der bestens ohne eigentliche Leitmedien als alleinige Foren für die öffentliche Meinungsbildung auskomme. Da Supino die Quantität des Angebots an Informationen aber mit dessen Qualität relativ sorglos gleichsetzt, bleibt die Replik insgesamt ein bisschen dünn.

Unterhaltsame geschichtliche Entwicklung des Fernsehens
Das Buch von Asa Briggs und Peter Burke (2) vermittelt einen Überblick über die Geschichte neuerer Kommunikationsmedien und ihrer sozialen und kulturellen Einbettung. Wir haben den Abschnitt über das Zeitalter des Fernsehens gelesen. In angelsächsischer, sehr angenehm zu lesender Schreibtradition werden das Aufkommen, Entwicklungen, nationale Differenzen, markante Ereignisse in einzelnen Ländern und schliesslich die kontinuierliche Ausbreitung des TV-Einflusses über alle Länder der Erde nachgezeichnet. Der Kommentar- und Forschungsteil macht mit verschiedenen theoretischen Positionen und empirischen Daten vertraut.
Nach dem, was wir gelesen haben, ein sehr empfehlenswertes Buch, um im Zeitalter der schnellen Medien-Entwicklungen ein Verständnis für Entwicklungen der Mediengeschichte zu erhalten.

1) http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Die-Qualitaet-unserer-Presse/story/28385132

2) Asa Briggs and Peter Burke : A social history of the media : from Gutenberg to the Internet. (3rd ed.) Cambridge, 2009.

Big (Media) Science mit Lücken

Der kritische Kommentar zum Beitrag über die Qualitätsstudie weist durchaus auf einen wunden Punkt hin, der vielleicht weniger die Imhof-Studie, wohl aber die Kommunikationswissenschaften generell betrifft: Die digitale Medienszene wird weitgehend im Kontext traditioneller Medien analysiert. Neue kommunikative und mediale Formen werden eher oberflächlich gestreift, der Medienbegriff bleibt wenig konturiert. Die entsprechenden Phänomene werden an das Spezialgebiet „New Media“ ausgelagert.

Wir wollen einige Schwächen und Stärken des Mainstream-Ansatzes anhand eines Grundlagenwerks aus den USA ansehen. „Understanding Media in the Digital Age” (1). Es richtet sich an StudentInnen und anspruchsvolle Interessente aus Publizistik und Werbewirtschaft.

Einleitend werden unverzichtbare Basics zu Kommunikation diskutiert: Kommunikation, Sprache, Kultur, Symbole. Ein Grundmodell menschlicher Kommunikation bezieht sich auf die Kette von Shannon-Weaver: Quelle – Sender – Signal – Empfänger – Ziel, beeinflusst durch Störungen. Dieses lineare Modell wird heute als allzu vereinfachend eingeschätzt. Die Autoren bringen weitere Elemente ein: Erfolgreiche Kommunikation basiert auf Elementen wie Genauigkeit, Feedback und Rollenverhalten. Da wird eine Menge Relevantes auf 19 Seiten gepackt.

Was ist ein Massenmedium?

Der Text nennt eine Reihe von Kriterien, welche Massenmedien kennzeichnen: 1. Professionelle Kommunikatoren als Sender  2. Gewünschte Bedeutungen werden von Produktionsspezialisten codiert  3. Als Information via spezialisierte Medien übermittelt  4. Grosse diversifizierte Massenpublika als Empfänger  5. Individuelle Empfänger konstruieren eine Interpretation der Nachricht  6. Empfänger werden beeinflusst. Der Text nennt drei Typen von Massenmedien: Publikationen (so Bücher, Magazine, Zeitungen) Film (vor allem kommerzielle Produktionen) und Elektronische Medien (vor allem Radio und TV, aber auch DVD).

Das sind wertvolle Elemente, das Problem liegt eher beim Ausgelassenen. Neben den herkömmlichen Massenmedien werden keine anderen Medientypen in vergleichbarer Tiefe entwickelt. Es werden keine Tools bereitgestellt, um etwa soziale Netzwerke oder Blogs zu analysieren und allenfalls in verschieden Segmente gliedern zu können. Letzteres ist vermutlich sinnvoll, um eine breit gefächerte Realität vertieft analysieren zu können. Letztlich bleibt darum der Medienbegriff vage, sobald die Welt der grossen Massenmedien verlassen wird.

Aufstieg des Digitalen

Die Forschungscommunity ist seit 1996 gewarnt: „If mass communication researchers continue to largely disregard the research potential of the Internet, their theories of communication will become less useful. Not only will the discipline be left behind, it will also miss an opportunity to explore and rethink answers to some of the central questions of mass communication research, questions that go to the heart of the model of source–message–receiver with which the field has struggled.” (Morris/Ogan).

Die Warnung wird im vorliegenden Band ernst genommen – mit Kapitel 2: Navigating Change – The Rise of Digital an Global Media. Die Geschichte des Internet wird kurz rekapituliert. Die Autoren stellen fest, das digtiale Zeitalter sei „radically different“ vom bisher gekannten. Es gelingt ihnen aber nur in Ansätzen, diese Radikalität zu fassen und zu vertiefen.

Gerne weisen wir auf die beiden interessanten und leider nur kurz angesprochenen Ansätze hin. Es geht um die Begriffe persönliche Medien und intermediäre Kommunikation: Neben Massenmedien gibt es Kommunikationsformen, die in neuer Weise hin zu Individuen adressierbar und von diesen verwendbar sind. Smartphones und Sharingmechanismen sind Beispiele von persönlichen Medien. YouTube ist vorerst ein persönliches Medien, das aber Züge eines Massenmediums annimmt. Auf einer mittleren Ebene können interessierte Personen via intermediäre Kommunikation untereinander in Kontakt treten.

Der Text bleibt leider ziemlich verschwommen. Klarheit herrscht oben, beim Thema klassische Massenmedien, und an der Basis, bei persönlicher Kommunikation. Dazwischen bleibt es wolkig. Vermutlich wird hier ein langfristiger Mangel fortgeschrieben: Die ganze Welt zivilgesellschaftlicher Bewegung und nichtkommerzieller Aktivitäten hat die Medienwissenschaft traditionell kaum interessiert, obwohl hier bereits vor dem digitalen Zeitalter reges Treiben herrschte – vom Pfadiblatt bis zu Mark Morrisroes „Dirt“.

Die Klassiker

In einem späteren Kapitel zur Medienökonomie wird knapp konstatiert, dass die Verlagerung zu digitalen Publikationen das Geschäftsmodell mancher Massenmedien unterminiert und es werden die üblichen Vorschläge aufgelistet, wie dem begegnet werden könnte, etwa mit Stiftungen zugunsten publizistischer Projekte oder Subventionen.

Nach dem ziemlich dünnen Teil über die Digitalisierung schöpfen die Autoren wieder aus dem Vollen. Die klassischen Medien werden ausführlich besprochen, wobei die Autoren besonders dem gedruckten Magazin und dem TV eine vitale Zukunft voraussagen. Themen wie Populärkultur, Marketing, Medienpublikum, Medienwirkungen und Regulierungen werden erörtert.

Da werden Know How Ressourcen sichtbar, die auch bei der Diskussion digitaler und subkultureller Medien nicht ignoriert werden können: Ein Begriff des Politischen und Öffentlichen, Identifikation grosser relevanter Player und eine Top Down Karte, die grossräumige Orientierung erlaubt.

Schwachpunkt im Mainstreamdiskurs der publizistischen Wissenschaft ist die Analyse des digitalen Wandels. In einzelnen Zonen wird aber lebhaft geforscht und publiziert: Im schon genannten Segment der New Media, bei der Nutzungsforschung und zu den online-Standbeinen der traditionellen Medien.

(1) Everette E. Dennis, Melvin L. DeFleur. Understanding Media in the Digital Age. New York : Allyn & Bacon. 2010.

Medien im Qualitätstest

Wie entwickelt sich die Qualität der Schweizer Medien im Zeitalter von Gratiszeitungen und Internet? Dieser Frage geht ein Jahrbuch nach, welches ein Team um Professor Kurt Imhof an der Universität Zürich publiziert hat. Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich mit dem Kapitel über online-Medien beschäftigt. Untersucht wird der Web-Auftritt etablierter Printmedien.

Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung bilden vier Qualitätskriterien, die aus einer aufklärerischen Konzeption von Öffentlichkeit und Politik begründet werden:

Vielfalt folgt aus dem Universalitätsanspruch öffentlicher Kommunikation, in der keine Meinung ausgeschlossen sein soll. Das Jahrbuch kritisiert die im online Bereich vorherrschende Boulevardisierung, welche für die Gesellschaft wichtige Ressorts wie Politik oder Wirtschaft an den Rand drängt. Wenn sie behandelt werden, dann in einer emotionalisierenden und personalisierenden Weise.

Relevanz meint gesellschaftliche respektive politische Bedeutung – das Allgemeine, was alle angeht, hat Vorrang. Auch bei diesem Kriterium monieren die AutorInnen, dass „die Onlineinformationsangebote deutlich stärker zu einer personalisierenden und privatisierenden Berichterstattungslogik als die Presseausgaben“ tendieren. Die Webauftritte der Abonnementszeitungen „fokussieren stärker als ihre Printausgaben auf Sport- und Human Interest-Themen“.

Aktualität wird als Kriterium neben der zeitlichen mit einer qualitativen Dimension ausgestattet, was bei uns zu kritischen Kommentaren geführt hat. Die Autoren fassen Aktualität so, dass Medien auch „auch Kontext- und Hintergrundinformation bereitstellen“ sollen. Sie konstatieren in der Folge eine Vorliebe für „episodische Weltbeschreibungen zulasten der reflexiven Einbettung“. Als Ursachen werden Deprofessionalisierung und Ressourcenmangel genannt.

Professionalität wird gefasst als Streben nach Objektivität im Rahmen einer journalistischen Berufskultur. Als entsprechende Normen werden Transparenz, Faktentreue, thematische Kompetenz und Sachlichkeit genannt. Die Studie konstatiert kritisch die vorherrschende Rezyklierung von Agenturmeldungen und Material aus andern Bereichen des Medienkonzerns.

Kritisch haben wir in der Lesegruppe den Objektivitätsbegriff diskutiert, der als absolutes Kriterium nicht fassbar ist. Heruntergebrochen auf konkretere Kriterien wie Faktentreue oder Fachkompetenz entschärft sich das Problem ein Stück weit.

Weiter wurden die zahlreichen Überlappungen im Text bedauert. Zudem macht der Text einen etwas eingleisigen Eindruck, als ob die Tiefqualitätsthese schon vor der Untersuchung festgestanden hätte. Allerdings haben die AutorInnen durchaus auf Material gebaut. Für den online Teil wurden etwa 2000 Samples analysiert. Im Text fehlt allerdings die Herleitung und die Befunde werden etwas hölzern präsentiert. Interessierte LeserInnen folgen fürs Erste besser den guten Fazit-Einschüben, als sich den ganzen Text zu Gemüte zu führen. Empfehlenswert ist ein Gespräch mit Kurt Imhof als DRS2 Download, in dem er das Kriterienset begründet und die wichtigsten Ergebnisse der Studie vorstellt.

Fazit: Die Studie untersucht einen wichtigen Teilaspekt des medialen Strukturwandels anhand von nachvollziehbaren Kriterien und Methoden, aufbauend auf erhobenen Daten. Das bringt ein Gegengewicht zur Masse von Beiträgen, die in Form flauschigen Impressionen daherkommen.

Schlingerndes Flagschiff

Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich weiteren Teilen des Buchs von Russ-Mohl (1) zugewandt. Diesmal geht es um den Wandel der New York Times (NYT) und die Zukunftsperspektiven der US-Presse.

Wie im letzten Beitrag diskutiert, konstatiert Russ einen mittelfristigen Trend zu einer tiefer werdenden Krise des Presse in den USA: weniger Inserate, weniger Stellen, weniger journalistische Substanz. Der Autor stimmt nun aber nicht ein Lamento an, sondern sieht auch die kreativen Potentiale, welche die Krise freisetzen kann. Als Beispiel skizziert er die Entwicklung der NYT.

Dass die NYT noch vor kurzem einen Büroturm in Manhattan hochgezogen hat, erscheint als obsoleter Verweis auf eine verflossene Goldene Ära. Das Gebäude musste verkauft werden, denn das Unternehmen befand sich jahrelang in Schieflage: Sinkende Anzeigeneinnahmen, Überschuldung, instabile Eigentumsverhältnisse. Letzteres konnte gedreht werden. Die historische Eigentümerfamilie Sulzberger erwarb wieder grosse Anteile, die Hedgefonds verschwanden von der Bildfläche. Die Zahl der Journalisten wurde etwas reduziert. Zudem trat ein mexikanischer Multimilliardär als Kreditgeber auf.

Auf einer zweiten Ebene hat die NYT neben der Printausgabe den Internetauftritt forciert. Russ nimmt sie als Beispiel „wie interaktiv, wie multimedial und auch wie transparent Qualitätsjournalismus im Internet sein kann“. Der Site zählt etwa 20 Millionen Besucher pro Monat. Da wird auch klar, warum sich die Zeitung nach einigem Hin- und Her für Gratiszugang entschiedenen hat. Die Werbeindustrie zeigte Heisshunger nach Werbeflächen in einer HiEnd Umgebung, wo zahlungskräftige Mittel- und Oberschichtangehörige erreicht werden können.

Russ stellt fest, dass diese Strategie doch eine Eigendynamik entwickelt. Auch wenn von Boulevardisierung nicht die Rede sein kann, setzt sich das gratis online Modell „unter Druck, dem Massengeschmack zu folgen“. Unter dem Strich attestiert der Autor aber der NYT, Berichterstattung auf hohem Niveau zu leisten, interaktive Formen und Selbstkritik zu fördern, den investigativen Journalismus wiederbelebt zu haben.

Der Autor hütet sich mit guten Gründen, die NYT als Beispiel hinzustellen, das nun alle nachahmen können. Die Mehrheit der paar führenden US-Zeitungen sind in den letzten Jahren in den Niederungen von Boulevard und Bedeutungslosigkeit verschwunden. So die historische Nummer zwei, die Los Angeles Times. Nicht besser sieht es mit bei den mittelgrossen und kleineren lokalen Blättern aus.

Eine vorsichtige Tonart schlägt der Text bei den Zukunftsaussichten an. Harte Kritik stecken Unternehmensleitungen ein, die sich einfach an alte Praktiken und Vorstellungen geklammert haben. Der Autor konstatiert, dass der Journalismus „als professionelle Spezies neu erfunden“ wird. Der Journalist wird zum „dynamischen Unternehmer“. Das passt nun allerdings nicht so richtig zum Modell NYT, wo JournalistInnen doch gerade im Kontext eines institutionellen Rahmens agieren – als Fachspezialisten und nicht als Unternehmer. Dass bürgernaher Freelancer Journalismus zu einem ökonomischen Modell werden könnte, wird einfach angetönt, aber nicht entwickelt.

Eine komplexer werdende Welt braucht hochwertigen Journalismus. Russ sieht ihn eher in einer Funktion als Lotse denn als Welterklärer. Das ist allerdings nicht als free lunch zu haben. Anspruchsvollen Stoff gebe es wohl auf die Dauer nur „wenn wir dafür bezahlen“.

Das Buch hat Schwächen, etwa die (bereits im letzten Beitrag erwähnte) ungeklärte Verwendung des News-Begriffs. Auch werden die medialen Entwicklungen nicht mit kulturellen Neuorientierungen in Verbindung gebracht. Der Text bringt aber viel Material, welches eine Einschätzung der medialen Dynamik in den USA erlaubt.


1) Stephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz 2009