Sherry Turkle beschäftigt sich am MIT schon lange mit dem Umfang von Menschen mit Informationstechnologie. Ihr jüngstes Buch „Verloren unter 100 Freunden“ nimmt zurecht einen wichtigen Platz in der aktuellen Diskussion ein. Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich den ersten Teil angesehen, der sich mit Spiel- und Pflegerobotern beschäftigt.
Auf den ersten Blick ist nicht klar, warum die Autorin dem Umgang mit Robotern zweihundert Seiten einräumt. Die Bedeutung von Robotern im Alltagsleben ist doch erheblich geringer geblieben, als das vor einigen Jahrzehnten vermutet werden konnte. Turkle forscht nun aber seit den 90er Jahren auf diesem Gebiet. Und es ist schon einleuchtend, nicht nur vom Bildschirm dargestellte und dann virtuell im Kopf konstruierte Welten anzusehen. Spiel- und Pflegeroboter haben das Potential, in der dreidimensionalen Lebenswelt zu erscheinen und als Surrogat für leibliche Menschen (und Tiere) zu dienen.
Diese Ersatzfunktion ist ein erstes grosses Thema, dass sich durch den Text zieht. Turkle streut Dutzende von kurzen Beschreibungen von Experimenten und Gesprächen ein, in denen direkt die Haltung der Probanden zum Ausdruck kommt. Über sehr persönliche Dinge „mit einem Computer zu sprechen, würde mir mehr behagen“, als mit Menschen, sagt einer von ihnen. Ein anderer wünscht einen Haushaltroboter, der „meine Wohnung in Schuss hält und weiss, wie er mich pflegen muss, wenn ich krank bin“. Er soll auch die Dokumente für die nächsten Geschäftstermine bereitstellen können.
Grossen Raum nehmen Schilderungen von Kindern und Jugendlichen ein, die mit Tamagotchis und tierförmigen Roboterspielzeugen hantieren. Zu den stärksten Aspekten des Buchs gehören die entsprechenden Schilderungen, in denen eine Ambivalenz sichtbar wird. Manche Kinder neigen dazu, die Roboter als lebende Haustiere zu behandeln und emotionale Bindungen zu entwickeln. Gleichzeitig wird auch diffus reflektiert, dass die Maschinen doch nicht wirklich lebendig sind. Ein paar Dutzend Seiten dieser faktennahen Materials durchzulesen, erscheint lohnend.
Damit hat es sich dann aber. Turkle bleibt uns jede Art von erklärenden Hypothesen und wissenschaftlichen Ansätzen schuldig. Über die zweihundert Seiten steht eine zentrale Frage über dem Material: Wie ist die menschliche Disposition zu deuten, elektrische betriebenen Kleinmaschinen eine Rolle als existentielle Partner einzuräumen?
Natürlich weiss die in Psychologie ausgebildete und philosophische bewanderte Autorin, dass diese Frage in Teufels Küche führt. In der Diskussion der Lesegruppe wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur der Umgang auch mit Robotern, Haustieren und konventionellen Spielzeugen, sondern auch mit Totems, Haustieren, Sportwagen und iPhones erklärungsbedürftig ist. Im Spannungsfeld zwischen Kunst, Billigtrost und Wahn scheint es eine menschliche Disposition zu geben, materielle Dinge mit sinnhaften bis pantheistischen Bedeutungen aufzuladen.
Dass Turkle das im Hintergrund schon reflektiert, uns aber nichts Greifbares dazu sagt, ist eine grosse Schwäche des Buches. Auch eine Einbettung in den kulturellen Kontext der USA fehlt. Noch gravierender erscheint, dass Turkle die Berichte nicht wirklich auswertet und gewichtet. In den Überschriften werden Stichworte wie „Verschmelzung“ gebracht aber im Text nicht explizit vertieft. Es fehlt also auch an materialnaher Theorie.
Dass Turkle uns zur kritischen Reflexion einlädt und faktenreiches Material anbietet, ist erfreulich. Dass sie in einem populärwissenschaftlichen Buch keinen Klartext spricht, ist bedauerlich. Als LeserInnen möchten wir weder durch Feinanalyse des Textes die Positionen der Autorin herausdestillieren, noch das Rohmaterial selber wissenschaftlich auswerten.
Sherry Turkle: Verloren unter 100 Freunden. Riemann. 2012. Die englische version ist als epub greifbar.