Die Lesegruppe liest weiter Dieter Mersch (1), diesmal zu Medienphilosophien von Baudrillard und Virilio.
«Jean Baudrillard und die Agonie des Realen» titelt Mersch. Baudrillard, ursprünglich Soziologe und Philosoph, wird in diesem Kapitel als Medientheoretiker konturiert, der früh schon die These vom Referenzverlust medialer Prozesse aufgestellt hat. Gemeint ist damit im engen Sinn – bezogen auf Zeichenprozesse – die Loslösung des unmittelbaren Bezugs von Zeichen und Bezeichnetem, von Signifikant und Signifikat. Bedeutungen von Zeichen hängen damit mehr noch und zusehends nur noch von der Relation der Zeichen untereinander ab. Die beständige Möglichkeit der Rekombination der Zeichen bedeutet in einem weiteren Sinne den Abschied vom Realen, von der Referenz. Der «Wirklichkeitsbezug» geht verloren; Repräsentation wird durch Simulation verdrängt. Baudrillard bezieht sich mit der Aufwertung des Symbolischen stark auf Roland Barthes (Mythen des Alltags, Elemente der Semiologie) und beklagt diesen Verlust der Referenz in einer nur noch selbstreferentiellen Welt, in der aus Realität eine bloss konstruierte, simulierte oder auch virtuelle Realität geworden ist.
Im Zentrum der Technik-kritischen Position des französische Architekten und Urbanisten Paul Virilio stehen Raum und Bewegung, die Dynamik wachsender Beschleunigung und der Exzess der Geschwindigkeit. Die Entwicklung der sich steigernden Geschwindigkeiten unterteilt Virilio, gemäss Mersch, in Epochenstufen, die er anhand von so unterschiedlichen Phänomenen wie Informations- und Übertragungstechniken, Verkehrsmittel, Architektur, der Logistik automatischer Waffen und der Zurüstung des Leibes durch Transplantationstechniken nachzeichnet. Auch bei Virilio konstituieren die Medien in diesem unerbittlich sich steigernden Geschwindigkeitsrausch ihr Mediatisiertes: Die Erfahrung des Wirklichen vollzieht sich in Abhängigkeit von Geschwindigkeiten mit denen gesehen oder gehört wird; so etwa sei die Logistik des Krieges zunehmend eine der Sehwaffen.
Der thematische Überflug mit Mersch macht deutlich, dass weder Baudrillard noch Virilio mit solch einer summarischen Lektüre beizukommen ist.
1) Dieter Mersch. Medientheorien zur Einführung. Junius. Hamburg 2006.