Ob Berufserfahrung am Pokertisch die geeignete Qualifikation für einen Prognose-Experten bilden? Vielleicht schon. Nat Silver jedenfalls nimmt sich in „Die Berechnung der Zukunft“ die Verheissungen von Big Data und die Fehlleistungen mancher Prognosen vor. Die Digitale Allmend hat sich von Beginn weg auch für die Frage interessiert, ob digitale Technologien mit einer gesteigerten Daten- und Informationsmenge auch zu mehr und besserem Wissen beitragen. Mehr Wissen müsste sich auch in besseren Prognosen niederschlagen.
Dass von stetig besseren Prognosen im Computerzeitalter keine Rede sein kann, macht Silver anhand seines Spezialgebiets der US Wahlprognosen klar. Ein hoher Anteil der Prognosen liegt daneben. Und das ist eigentlich auch egal. Wie der Autor anhand einer regelmässig parlierenden TV Expertenrunde zu zeigen versucht, herrscht eine Kultur des raschen Vergessens. Niemand wertet aus oder reflektiert die die zugrundeliegenden Annahmen.
Einleitend geht Silver auf das Spannungsfeld zwischen Information und Wissen ein. Er legt gleich mit der Prognose los, dass „noch viel Zeit verstreichen kann, bis wir gelernt haben werden, Information in nützliches Wissen umzuwandeln“. Dann zitiert er zustimmend Krugmann mit der These, in den 70er Jahren habe es einen riesigen Theorieüberhang auf der Basis geringer Informationsmengen gegeben, mag das in speziellen Gebieten ökonomischer oder meteorologischer Modelle zutreffen. Krugmann bezieht sich auf eine bestimmte Konzeption des Modellbaus. Da wird mit beschränktem Wissen über das zu modellierende System einfach mal modelliert. Dann werden historische Datenreihen durchs Modell gerattert und die Stellschrauben solange gedreht, bis die auftretenden Anomalien minimiert sind. Dann wird in die Zukunft projiziert.
Bei Krugmanns These geht aber der Zusammenhang verloren, dass im Allgemeinen völlig hinreichende Information vorhanden waren, um Vorgänge wie den Ersten Weltkrieg, die Grosse Depression oder die Entwicklungsdynamik der Sowjetunion zu analysieren. Silver verpasst es leider ein weinig, Prognosefelder zu unterscheiden. 1980 den Zusammenbruch der Sowjetunion oder am Montag das Freitagswetter fürs Tessin zu prognostizieren sind doch zwei verschiedene paar Schuhe.
Silver macht deutlich, dass er diesen Methoden auch in der Big Data Variante mit der nötigen Distanz gegenüber tritt. Sein Ansatz ist pragmatisch. Wo er dann allerdings methodische Annahmen deutlich macht, wird es schon mal problematisch. So stellt er die geeignete Grundhaltung eines Prognostikers zur Diskussion. Er bevorzugt die Figur des Fuchses: Der bedient sich verschiedener Fachgebiete und Perspektiven, ignoriert eigene Haltungen und ist offen für Komplexität. Gar nichts hält er von Igeln, die selbstbezogen mit starren Methoden und ideologisch fixiert agieren. So angemessen eine pragmatische Haltung erscheint, das ist doch etwa schlicht auf schwarz-weiss getrimmt. Nun ist ja das Buch auch im Heyne-Verlag erschienen, dem kein Hang zur Überkomplexität nachgesagt werden kann.
Vereinfachung ist allerdings doch unumgänglich, wie die Lebhafte Diskussion der Lesegruppe über das Thema Finanzkrise zeigt. Silver schafft es auf ein paar Seiten, wichtige Züge der Entwicklung zu skizzieren. Er gibt auch einzelne Hinweise darauf, warum etwa die Ratingagenturen nicht rechtzeitig Alarm schlugen. Ihre Modelle waren durch falsche Annahmen unterlegt und das Risiko eines schweren Einbruchs der Immobilienpreise wurde unterschätzt.
Trotz mehrerer wichtiger Beobachtungen gelangt hier Silver mit seinem pragmatisch positivistischen Erklärungsmodell an seine Grenzen. In der Diskussion wird etwa auf die Interessensteuerung hingewiesen: Die meisten Player handelten einfach so, wie es ihren kurzfristigen Geschäftsinteressen entsprach. Weiter wird Silver kritisiert, dass er die Vorstellungswelt nicht analysiert, mit denen die direkten Akteure, aber auch Journalistinnen, Wirtschaftsprofessoren oder Regulierungsbehörden und eine weitere Öffentlichkeit unterwegs waren. Sogar ohne Internet waren in jedem Dorfkiosk die Informationen über die Entwicklung der problematischen Produkte und die ersten Risse im US-Immobilienmarkt greifbar. Wer relevante Information in eine erheblich unangemessene Weltsicht einsortierte, gelangte zu einer verzerrten Einschätzung von Risiken und Handlungsoptionen.