Manfred Schneider, deutscher Literaturprofessor, richtet sich in der NZZ vom letzten Freitag mit reichlich akademischer Unterfütterung gegen die Netzgemeinde. Zentral ist die Kritik am Satz des Programms der deutschen Piraten, gemäss dem “die nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als natürlich betrachtet werden sollte.” Herr Schneider hält diesen Bezug auf die Natur für ideologisch, ja für einen nicht ernst zu nehmenden “Blütentraum”.
Ich denke, man sollte Schneider einen anderen, einen regulierungstheoretischen, Ansatz entgegen halten.
Urheberrecht ist eine staatliche Regulierung von Märkten wie viele andere auch, wie zum Beispiel das Konsumentenrecht oder das Umweltrecht. Als Begründung für Urheberrecht wird regelmässig die Bekämpfung “positiver externer Effekte” angegeben. Wenn auch selten explizit. Es heisst, es gehe darum, dass, wenn andere die Werke eines Autors frei kopieren können (also mit anderen Worten von positiven externen Effekten profitieren können, ohne zu zahlen), dieser Autor keine Motivation mehr habe, kreativ zu sein. Aus Ökonomensicht führt solches zu Marktversagen, und damit zu einem gesamtwirtschaftlichen Verlust. Darin liegt, nach traditioneller ökonomischer Auffassung, ein legitimer Grund für den Eingriff in den freien Markt.
Zunächst ist es nun aber so, dass heute diverse andere Fälle von Marktversagen gerade aus “ideologischen” Gründen unreguliert bleiben: So wenden sich “Liberale” beispielsweise regelmässig gegen Subventionen im Bereich grüne Energie, obwohl es dabei um einen absolut vergleichbaren Vorgang geht: Die Gemeinschaft finanziert Tätigkeiten, die gesamtwirtschaftlich vorteilhaft sind, um einen Anreiz für diese Tätigkeiten zu geben, genau so wie das Urheberrecht einen Anreiz für die Kreativität des Urhebers geben soll. Die “Liberalen” bekämpfen die Regulierung im Umweltbereich mit dem Argument, Regulierung an sich sei schlecht. Das sie damit selber einer liberalistischen Ideologie verfallen sind, merken sie nicht.
Das Urheberrecht ist natürlich auch schon lange in der Welt. Auch die “Liberalen” haben deshalb verinnerlicht, dass es diese Regulierung gibt. Womöglich um kognitive Dissonanzen zu vermeiden, reden sie allerdings nicht von Marktregulierung, sondern von “Geistigem Eigentum”.
Dabei ist der Effekt, dass der Autor vom Gesetz ein Ausschliesslichkeitsrecht zugesprochen erhält, mit dem er sich gegen die Nutzung seiner Werke wehren oder einen finanziellen Vorteil erwirtschaften kann, gar nicht Zweck der Üœbung. Das Ausschliesslichkeitsrecht ist vielmehr nur ein Mittel zum Zweck, um das beschriebene Marktversagen zu korrigieren, und der finanzielle Vorteil blosse Reflexwirkung. Dass sich die Leute im Lauf der Zeit daran gewöhnt haben, Geld für ihre durch das Urheberrecht geschützten Werke verlangen zu können, sodass sie angefangen haben, von “Eigentum” zu sprechen, ändert daran nichts.
Das Überraschende an der Sache ist nun, dass der Ansatz der Piraten genau besehen genau zu dem hinführt, was die Liberalen eigentlich wollen: Zu freiem Markt, frei im Sinn von “ohne staatliche Eingriffe”.
Und aus eben dieser liberalen Sicht muss doch die Frage erlaubt sein, ob das heutige Urheberrecht seine Funktion als wirtschaftspolitisches Instrument zur Förderung der Kreativität noch wirksam wahrnehmen kann. Gerade die neue Wirklichkeit des Internets, die eine Verfolgung von Urheberrechtsverstössen faktisch verunmöglicht und angesichts derer Millionen von Internetnutzern kriminalisiert werden für Tätigkeiten, die sie seit Jahren als selbstverständlich erachten, sollte uns veranlassen, diese Frage erneut aufzuwerfen.
In eine solche Neubeurteilung sollten auch ältere kritische Argumente Einfluss finden, die bislang wohl zu wenig Überzeugungskraft hatten, um eine grundsätzliche Neubeurteilung auszulösen: So führt dieses “geistige Eigentum” seit jeher nur selten zu einem wesentliche Nutzen derjenigen, deren Kreativität gefördert werden soll: Der Grossteil der erzielten Erträge versickert nämlich in einer langen Wertschöpfungskette, in der sich die Kreativen meistens am kürzeren Verhandlungshebel wieder finden. Es ist denn auch nicht verwunderlich, wenn sich auf Seiten der “Künstler”, die sich in den letzten Wochen gegen die Netzgemeinde gestellt haben, um das “Urheberrecht” zu verteidigen, fast ausschliesslich Leute finden, die das Glück haben, aufgund ihrer Bekanntheit einen längeren “Verhandlungshebel” zu besitzen. Das ist aber eine kleine Minderheit aller Kreativen, und sicher nicht jene Minderheit, deren Kreativität das Urheberrecht allein fördern sollte. Hinzu kommt, dass heute viele die Wirksamkeit staatlicher Eingriffe zur Förderung der Kreativität als solche bezweifeln. So hatte die deutsche Literatur ihre Blütezeit zu Zeiten, als es noch kaum urheberrechtlichen Schutz gab. Es ist also keineswegs erwiesen, dass es das heutige Urheberrechtssystem wirklich braucht, um Kreativität zu ermöglichen.
Das System des Urheberrechts, wie es heute besteht, ist damit wohl weniger eine ökonomische Notwendigkeit und eine Reaktion auf ein tatsächlich vorhandenes Marktversagen, als das Ergebnis fleissiger Lobbyisten, die an diesem System mehr und mehr zu verdienen hoffen. Nur solche “regulatory capture”, also Beeinflussung der Gesetzgebung durch Partikulärinteressen, erklärt beispielsweise, dass die angeblich so kreativitätsfördernden urheberrechtliche Schutzfristen dieser Tage wieder einmal verlängert werden sollen, und zwar auch rückwirkend für Werke, deren Autoren längst verstorben sind…
Wir sollten die aktuelle Debatte über das Urheberrecht dazu nutzen, uns einige grundsätzliche Fragen zu stellen und das Urheberrecht auch einmal neu zu denken. Ideologievorwürfe sind zu diesem Zweck wenig geeignet.
Simon Schlauri*
*Der Verfasser ist Rechtsanwalt und Privatdozent an der Universität Zürich. Vor nicht allzu langer Zeit hat er eine Summe im Wert eines kleineren Gebrauchtwagens an einen renommierten Verlag überwiesen, um seine Habilitationsschrift drucken zu lassen. Was u.a. auch das Zürcher Steueramt bis heute nicht versteht ist, dass der Verfasser aus einem solchen Verlagsvertrag niemals Gewinn erzielen wird. Urheberrechte (zumindest jene, die dem Verfasser einen finanziellen Vorteil hätten verschaffen können) spielten als Motivation für die Publikation also offensichtlich keine Rolle.