Die Lesegruppe der Digitalen Allmend hat sich weiteren Teilen des Buchs von Russ-Mohl (1) zugewandt. Diesmal geht es um den Wandel der New York Times (NYT) und die Zukunftsperspektiven der US-Presse.
Wie im letzten Beitrag diskutiert, konstatiert Russ einen mittelfristigen Trend zu einer tiefer werdenden Krise des Presse in den USA: weniger Inserate, weniger Stellen, weniger journalistische Substanz. Der Autor stimmt nun aber nicht ein Lamento an, sondern sieht auch die kreativen Potentiale, welche die Krise freisetzen kann. Als Beispiel skizziert er die Entwicklung der NYT.
Dass die NYT noch vor kurzem einen Büroturm in Manhattan hochgezogen hat, erscheint als obsoleter Verweis auf eine verflossene Goldene Ära. Das Gebäude musste verkauft werden, denn das Unternehmen befand sich jahrelang in Schieflage: Sinkende Anzeigeneinnahmen, Überschuldung, instabile Eigentumsverhältnisse. Letzteres konnte gedreht werden. Die historische Eigentümerfamilie Sulzberger erwarb wieder grosse Anteile, die Hedgefonds verschwanden von der Bildfläche. Die Zahl der Journalisten wurde etwas reduziert. Zudem trat ein mexikanischer Multimilliardär als Kreditgeber auf.
Auf einer zweiten Ebene hat die NYT neben der Printausgabe den Internetauftritt forciert. Russ nimmt sie als Beispiel „wie interaktiv, wie multimedial und auch wie transparent Qualitätsjournalismus im Internet sein kann“. Der Site zählt etwa 20 Millionen Besucher pro Monat. Da wird auch klar, warum sich die Zeitung nach einigem Hin- und Her für Gratiszugang entschiedenen hat. Die Werbeindustrie zeigte Heisshunger nach Werbeflächen in einer HiEnd Umgebung, wo zahlungskräftige Mittel- und Oberschichtangehörige erreicht werden können.
Russ stellt fest, dass diese Strategie doch eine Eigendynamik entwickelt. Auch wenn von Boulevardisierung nicht die Rede sein kann, setzt sich das gratis online Modell „unter Druck, dem Massengeschmack zu folgen“. Unter dem Strich attestiert der Autor aber der NYT, Berichterstattung auf hohem Niveau zu leisten, interaktive Formen und Selbstkritik zu fördern, den investigativen Journalismus wiederbelebt zu haben.
Der Autor hütet sich mit guten Gründen, die NYT als Beispiel hinzustellen, das nun alle nachahmen können. Die Mehrheit der paar führenden US-Zeitungen sind in den letzten Jahren in den Niederungen von Boulevard und Bedeutungslosigkeit verschwunden. So die historische Nummer zwei, die Los Angeles Times. Nicht besser sieht es mit bei den mittelgrossen und kleineren lokalen Blättern aus.
Eine vorsichtige Tonart schlägt der Text bei den Zukunftsaussichten an. Harte Kritik stecken Unternehmensleitungen ein, die sich einfach an alte Praktiken und Vorstellungen geklammert haben. Der Autor konstatiert, dass der Journalismus „als professionelle Spezies neu erfunden“ wird. Der Journalist wird zum „dynamischen Unternehmer“. Das passt nun allerdings nicht so richtig zum Modell NYT, wo JournalistInnen doch gerade im Kontext eines institutionellen Rahmens agieren – als Fachspezialisten und nicht als Unternehmer. Dass bürgernaher Freelancer Journalismus zu einem ökonomischen Modell werden könnte, wird einfach angetönt, aber nicht entwickelt.
Eine komplexer werdende Welt braucht hochwertigen Journalismus. Russ sieht ihn eher in einer Funktion als Lotse denn als Welterklärer. Das ist allerdings nicht als free lunch zu haben. Anspruchsvollen Stoff gebe es wohl auf die Dauer nur „wenn wir dafür bezahlen“.
Das Buch hat Schwächen, etwa die (bereits im letzten Beitrag erwähnte) ungeklärte Verwendung des News-Begriffs. Auch werden die medialen Entwicklungen nicht mit kulturellen Neuorientierungen in Verbindung gebracht. Der Text bringt aber viel Material, welches eine Einschätzung der medialen Dynamik in den USA erlaubt.
1) Stephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz 2009