Auf dem Höhepunkt der Web 2.0 Verklärung ist Andrew Keen der Kragen geplatzt. Er ist 2007 mit einer lebhaft geschriebenen Polemik auf den Plan getreten – gegen den „Cult oft he Amateur“ (1).
Keen selber ist als Aktivist und Unternehmer in der Internet-Kulturszene tätig und entwickelte ein Musikportal. Ihm schwebte vor, das Internet zu einem technischen Verteilkanal von Kultur in einem breiten und herkömmlichen Sinn zu machen. Dazu gehört für ihn eben auch Hochkultur und etwa klassische Musik.
Die Wende kam für Keen im September 2004 an einem von Medien-Millionär und Web 2.0 Verkünder Tim O’Reilly veranstalteten Camp. Da trafen sich gemäss Keen rund 200 „ergrauende Hippies, neue Medienunternehmer und Technologie Fans“ um das Hohelied des Usercontents auf dem Internet anzustimmen. Keen konnte sich mit der Verklärung des Amateurs nicht anfreunden und hat mit dieser Strömung gebrochen.
Keen zeigt sich besorgt um die Qualität des öffentlichen Diskurses. Das postulierte Verschwimmen der Autorposition und die geringe Transparaenz zersplitterter Publikationen wie der Blogs öffnet Tür und Tor für Manipulationen etwa durch intransparente Lobbys. Aus dem Web 2.0 strömen „dubiose Inhalte aus anonymen Quellen, die unser Zeit in Anspruch nehmen und auf unsere Leichtgläubigkeit abzielen“.
Eine weitere Kritik richtet sich gegen den Demokratisierungsanspruch der Web 2.0 VertreterInnen. Demokratisiert werden sollen nicht nur Autorschaft, Information, Wissen oder Kultur – sondern dank dem Internet auch Big Media, Big Business und Big Government. Keen sieht in einer solchen Konzeption von Demokratisierung eine Unterminierung von Wahrheit und Fachwissen.
So berechtigt sich über die aufgeblähten Ansprüche von Web 2.0 Konzepten streiten lässt, so schwach ist Keens Ansatz, hier mit einem naiven Wahrheitsbegriff zu operieren. In der Diskussion wurde betont, dass Demokratisierung eher am Begriff der Partizipation gemessen werden muss: Entwickeln sich Formen von Beeinflussung des öffentlichen Diskurses und gesellschaftlicher Entscheidungen? Davon kann in der Tat auf weiten Teilen des Web 2.0 keine Rede sein.
Keen identifiziert als weitere problematische Tendenz, dass Amateurpublikationen wie Blogs oder Wikipedia die Aufmerksamkeit und die ökonomische Basis von professioneller Kulturarbeit abziehen, wie sie etwa von Enzyclopedia Britannica oder Qualitätszeitungen geleistet wird.
Keens Kritikpunkte erscheinen relevant und fulminant, seine Positionen aber etwas unbedarft. Er neigt zu einem schlichten Vorzeichenwechsel. Pauschale Verherrlichung der neuen medialen Formen wird durch pauschale Niedergangsrhetorik ersetzt. Keen verpasst es auch, die Zivilgesellschaft zu würdigen und die Chancen anzusehen, welche neue Medien hier eröffnen.
Die Positionen in der Diskussion der Lesegruppe neigen zu mehr Pragmatismus. Wo problematische Entwicklungen in der politischen Kultur vorliegen oder Qualitätsmedien unter Druck geraten, kann dass nicht einfach den neuen medialen Formen angelastet werden.
Da müsste umfassend diskutiert werden, ob es im tonangebenden Mittelstand ein kulturelles Race to the Bottom gibt. Wenn es zutreffen sollte, dass die funktionale Elite sich boulevardisiert und beispielsweise Banker die Derivatemathematik auf Hochschulniveau betreiben, Allgemeinbildung aber aus digitalen, analogen oder papierenen Sensationsmedien bezieht: Dann haben wir vielleicht ein Problem.
1) Andrew Keen: The Cult of the Amateur: How Today’s Internet is Killing Our Culture. Boston, London 2009.